: Trauma im Supermarkt
■ Mit einer großen Projektreihe wollen das Zentralkrankenhaus Ost und das Junge Theater die komplizierte Welt verstehen
Wenn das Hemd knapp über der Brustwarze endet und aus recycelten Coladosen besteht, wissen wir, dass die Modeschöpfer dieser Welt mal wieder einen neuen Trend kreiert haben. Trends verändern aber nicht nur permanent die Schaufenster von Boutiquen, sondern durchfluten ebenso regelmäßig die Feuilletonreaktionen und Debattenzirkel der Intellektuellen. Nicht, dass die KopfarbeiterInnen hierzulande plötzlich alle knapp sitzende Blechhemden trügen, die knapp über der Brustwarze enden – was zweifellos ein wirklich spektakulärer neuer Trend für diese Berufsgruppe wäre. Aber was dem einen der neue Fummel ist, ist dem anderen halt die neue These, mit deren Hilfe man versucht, das bizarre Treiben auf diesem Planeten mitsamt seinen nicht minder bizarren BewohnerInnen zu erklären.
Allein in den letzten zehn Jahren wurde der Tod des Subjekts, das Ende der Geschichte und der Niedergang der aufklärerischen Moderne postuliert. Es wurde strukturalisiert, virtualisiert, dekonstruiert und postmodernisiert, was das Zeug hielt, bis schließlich auch die letzte biologische Selbstverständlichkeit zur Illusion erklärt und der Unterschied zwischen Männlein und Weiblein als Resultat willkürlicher gesellschaftlicher Festschreibungen dechiffriert war.
Das Kreativbüro des Zentralkrankenhaus Ost ist auch so ein Ort des Grundsätzlichen. In einer ersten interdisziplinären Projektreihe namens „Rausch – Sucht – Lust“ wurde im letzten Jahr nichts unversucht gelassen, der Gesellschaft tiefenpsychologisch, philosophisch und kreativ-künstlerisch auf den Pelz zu rücken. Das neue Kulturprojekt „Lessness – Arbeit macht Freiheit“ knüpft daran an. Mit den Mitteln des Theaters und der Performance, durch Vorträge und Konzerte soll ein Wesenszug der Moderne bloßgelegt werden. Warum, so fragen sich neben den Kreativbüro-Leuten noch das mitveranstaltende Junge Theater sowie die Künstlerin Heide Marie Voigt, zerstört der Mensch immer wieder traditionelle Bindungen, wenn ihn zugleich die daraus folgende Freiheit traumatisiert? Weshalb kann er den Zustand strukturloser Beziehung, für den Samuel Beckett den Begriff „Lessness“ prägte, nicht ertragen und strebt ihn gleichwohl doch immer wieder an? Und: Wieso übt die Konsum- und Arbeitswelt einen so großen Reiz aus, obwohl in ihr die Menschen nur Einsamkeit und Sinnenleere finden?
Puh, gewaltige Thesen. Um sie besser zu verstehen, bietet „Lessness“ eine Vielzahl von Veranstaltungen. Neben einer Wiederaufnahme von Mark Ravenhills Stück „Shoppen & Ficken“ und einer erneuten Aufführung der Theaterperformance „Discounter“ im Extra-Markt im Steintor zeichnet das Junge Theater zudem unter anderem für die Performance „Why do you shop?“, Bernard-Marie Koltés „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“ und „Mercedes“ von Thomas Brasch verantwortlich.
Den traumatischen Folgen des sexuellen Missbrauchs von Mädchen und Frauen widmen sich gleich mehrere Veranstaltungen: Heide Marie Voigts Tanzperformance „Der Tod und das Mädchen“, Ulla Baurhenns Film „Wir möchten noch viel lauter sein“ sowie die Ausstellung „Tabu“ mit Arbeiten von Voigt und Elisabeth Reuter. Vorträge über die fragwürdige Natürlichkeit der Aufteilung der Menschheit in zwei Geschlechter sowie Konzerte, die sich mit der Auflösung musikalischer Schemata in der Neuen Musik beschäftigen, runden das umfangreiche Programm ab.
Mitte Dezember endet der erste Teil von „Lessness“ mit einem Vortrag über „Geld, Geschlecht, Konsum“ des Augsburger Psychologen Rolf Haubl. Im März ist eine Fortsetzung geplant. Ob sich bis dahin die Ausgangsthese der Veranstalter bestätigt hat, dass der moderne Mensch ein individualistischer Traditionszertrümmerer ist, der traumatisiert durch die Konsumwelt irrt und nicht einmal sagen kann, ob er Franz oder Franziska heißt, bleibt abzuwarten. Vielleicht verhält sich der moderne Mensch ja auch wie die moderne Geschichte, die sich bekanntlich nur wenig darum geschert hat, dass ihr ein Trendforscher vor zehn Jahren prognostizierte, sie sei unwiderruflich an ihr Ende gelangt. zott
„Lessness – Arbeit macht Freiheit“ wird am Samstag um 19 Uhr mit der Vorstellung des Projekts, einem Vortrag von Stephan Knoche über die postmoderne politische Philosophie und der Tanzperformance „Der Tod und das Mädchen“ von Heide Marie Voigt im Haus im Park eröffnet. Quasi als Vorspiel ist bereits einen Tag zuvor in der Böttcherstraße um 21 Uhr das Jugendtheater B.E.S.T mit seinem Stück „SehensWerte“ zu sehen. Im Anschluss wird um 22.15 Uhr im Saal des Paula-Modersohn-Becker-Museums ein von Andreas Hoetzel moderiertes Gespräch über das Stück stattfinden. Eingeladen sind u.a. die Grüne Helga Trüpel, der Historiker Helmut Hafner und Nomena Struß vom Jungen Theater. Infos über alle weiteren Veranstaltungen unter Tel.: 408 17 57 sowie im Internet: www.krankenhaus-bremen-ost.de/deutsch/aktuelles/lessness.html .
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