Durchsuchungen im EU-Auftrag

Neues Kartellrecht der Union soll Papierkrieg vermindern und Brüssel mehr Rechte bei der Wirtschaft einräumen

BRÜSSEL taz ■ EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti trat gestern sichtlich zufrieden vor die Presse: Sein Ressort habe „die wichtigste Reform des Wettbewerbsrechts seit 1989 vorgelegt“. Damals wurde die Fusionskontrolle neu geregelt. Nun soll das von 1962 stammende Kartellrecht modernisiert werden. Kritiker fürchten allerdings, dass kleine und mittlere Unternehmen dabei auf der Strecke bleiben könnten.

Im Kern haben sich die Kommissare auf zwei wichtige Neuregelungen verständigt. Die Vorschrift, jede Unternehmensabsprache bei der EU-Kommission zu melden, wird abgeschafft. Sie habe, so Monti, für die Betroffenen und die Kommission Papierkrieg und Kosten verursacht, ohne dass viel dabei herausgekommen sei. Ohnehin würden die meisten Preisabsprachen nicht dadurch bekannt, dass die Unternehmen in Brüssel um Erlaubnis nachsuchen. Die Konkurrenz sei eine weit wirkungsvollere Kontrollinstanz.

Große Bedenken hegt vor allem die deutsche Kartellbehörde beim zweiten Kernbereich des neuen Kartellrechts: Alle Fälle, die grenzüberschreitend bedeutsam sind, sollen künftig einheitlich nach EU-Recht behandelt werden. Aus Montis Sicht wird das Verfahren dadurch durchschaubarer und effizienter. Zukünftig sollen sich nationale Kartellbehörden und die EU-Kommission nicht mehr die doppelte Arbeit machen, indem sie parallel nebeneinander her ermitteln.

Ob eine Absprache grenzüberschreitend bedeutsam ist und daher nach EU-Recht behandelt wird, entscheidet Brüssel aber allein. EU-Mitarbeiter sollen dann direkt mit nationalen Justizbehörden zusammenarbeiten – sie sollen in Privatwohnungen nach Beweisen für Absprachen suchen können und Aktenschränke versiegeln dürfen. „Dezentralisierung ohne Renationalisierung“ nennt Mario Monti die neue Strategie. Zu deutsch: mehr Kompetenzen für Brüssel bei gleichbleibender Detailarbeit für die Mitgliedsstaaten.

Das Bundeskartellamt glaubt, dass die neue EU-einheitliche Regelung die Marktstruktur auf Dauer verschlechtern wird. Denn das europäische Kartellrecht beschränkt sich auf Fälle, wo eine „marktbeherrschende Stellung“ eines Unternehmens zu befürchten ist. Das bedeutet, beispielsweise, dass sie etwa 30 Prozent des entsprechenden Marktes beherrschen müssen. Sind sie kleiner, aber trotzdem im Stande, anderen ihre Regeln aufzuzwingen, blieben sie aus Brüssel unbehelligt: Unternehmen „überlegener Marktmacht“, wie sie das deutsche Kartellrecht kennt, könnten in Zukunft ungeniert kleine und mittlere Betriebe aus dem Markt drängen.

Ein Beispiel: Vor wenigen Wochen erst wurde den Einzelhändlern Wal-Mart, Aldi und Lidl in Deutschland untersagt, Produkte unter Einkaufspreis anzubieten, weil sonst kleinere Händler auf der Strecke bleiben. Deutschen Mineralölkonzernen wurde verboten, freie Tankstellen zu höheren Preisen zu beliefern als ihre eigenen Filialen. Beides wäre nach EU-Kartellrecht erlaubt. Für kleine und mittlere Einzelhändler also könnten die Zeiten noch härter werden. Dabei hat die EU-Kommission erst vor wenigen Wochen eine Statistik veröffentlicht, wonach der Tante-Emma-Laden in Euro-Land zu den bedrohten Arten gehört.

DANIELA WEINGÄRTNER