: Die Wahl heißt essen oder streiken
Serbiens Opposition ist wild entschlossen, mit einem Generalstreik das Regime zu stürzen. In Niš boykottieren 3.000 Schüler den Unterricht. Beobachter bezweifeln die Wirksamkeit der Maßnahmen. Denn die Wirtschaft liegt ohnehin schon am Boden
aus Belgrad ANDREJ IVANJI
Eine Krisensitzung folgt der anderen. Die Führer der Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) haben sich für ein risikoreiches Spiel entschieden. Ihre ganze Strategie baut auf dem Willen des Volkes auf, die Wahlergebnisse auf der Straße zu verteidigen. Ein Frontalangriff des ermutigten Volkes soll das angeschlagene Regime zwingen, seine Niederlage einzugestehen.
„Wir werden in einen Generalstreik treten, die Straßen blockieren, Schulen, Theater und Kinos werden schließen. Ganz Serbien werden wir stilllegen“, donnerte einer der DOS-Führer, Zoran Djindjić. Er rief die Bürger Serbiens auf, ab Freitag, 14 Uhr, vor dem jugoslawischen Bundesparlament sowie auf den Straßen und Plätzen aller Städte Serbiens „rund um die Uhr“ zu demonstrieren. Ab Montag soll es richtig losgehen. Diesmal, so Djindjić, würde man nicht mit Trillerpfeifen spazieren gehen. Diesmal würde man Slobodan Milošević zum Rücktritt zwingen.
In Niš, der zweitgrößten Stadt Serbiens, folgen gestern morgen rund 3.000 Schüler dem Aufruf der Opposition und verliessen ihre Schulen. „Rette Serbien und bring dich um, Slobodan!“, dröhnte es im Zentrum. Der Bürgermeister von Niš, Zoran Zivković, rief alle Bürger auf, dem Beispiel der Schüler zu folgen. „Nicht ist verboten, wenn die Verteidigung von Staat und Volk auf dem Spiel steht“, sagte Zivković. Er wolle mit dem Kommandanten der Dritten Armee, Generalleutnant Vladimir Lazarević, sprechen, denn die Pflicht der Armee sei es, den Staat vor Erschütterungen und den demokratischen Volkswillen zu schützen, und nicht Einzelpersonen.
DOS weiß, sie muss schnell konkrete Erfolge vorweisen, dabei den Enthusiasmus ihrer Anhänger nach dem überlegenen Wahlsieg, und die Verwirrung in den Reihen des Regimes ausnützen. Auf monatelange, erschöpfende Massenproteste darf sie es nicht ankommen lassen.
„Ich weiß nicht mehr, wie oft ich demonstriert habe. Zweimal wurde ich von der Polizei verprügelt, und den Sieg der DOS empfinde ich als meinen eigenen. Aber die können nicht von mir fordern, meine Arbeit einzustellen. Wovon soll ich leben?“, sagt Zoran, Eigentümer eines Lebensmittelgeschäfts. Es sei ein Fehler, die Bürger vor die Wahl zu stellen, ihr tägliches Brot zu verdienen oder einen politischen Kampf zu führen.
Trotz offensichtlicher Wahlfälschung, die den Sieg des DOS-Präsidentenkandidaten, Vojislav Koštunica, in der ersten Wahlrunde annullierte, glauben viele Analytiker, dass DOS trotz allem die Stichwahl, in der Milošević chancenlos wäre, hätte akzeptieren sollen. Denn Massenproteste würden das Regime genauso wenig beeindrucken, wie die Wahlergebnisse. Und eine Blockade Serbiens würde nur dazu führen, dass es in Städten keine Lebensmittel gibt und der Verkehr zusammenbricht. Alles dies würde ähnlich wirkungslos bleiben, wie das internationale Wirtschaftsembargo: Nicht das Regime, sondern das Volk würde leiden. Und ein Generalstreik hätte keine Auswirkung, denn 50 Prozent der Arbeitnehmer seien ohnehin im „Zwangsurlaub“.
DOS hat sich auf ein Pokerspiel eingelassen, zumal davon auszugehen ist, dass Milošević die Massenproteste ignorieren wird. Die einzige Hoffnung der Opposition ist also, dass das Machtzentrum unter dem Druck der Demonstrationen von allein auseinanderfällt.
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