: Original und Fälschung oder Von der Manipulierbarkeit der Geschichten: Ingrid Lausunds „Die Unsterblichen“
Ja, darf man das denn? Die Schauspieler einfach probenartig auf der Bühne platzieren und ihre Geschichten erzählen lassen? Und kann man so schamlos zwischen Banalität, Slapstick und Poesie wandeln, ohne ins Wanken zu geraten? – Wie auch immer – Ingrid Lausund hat es getan, in der Inszenierung ihres Stückes Die Unsterblichen, das vorher (Noch) Ohne Titel hieß und in dem sich sieben Personen auf Stühlen verteilen, vielleicht nicht zufällig an die biblischen sieben Plagen erinnernd. Aber eigentlich plagen sie einander gar nicht, weder der Dichterjüngling (Oliver Bokern), der vergeblich Worte gegen die Realität stemmt und mit Federflügeln spielt, noch die von Vergangenem träumende alte Dame (Heide Grübl).
Zur Plage werden einander allenfalls die Laszive (Carola Regnier) und die ewig zurückgepfiffene Jungschauspielerin (Juliane Niemann), die einander die Schau zu stehlen versuchen. Mit den Worten „Bin ich gut genug, wann genüge ich“ hat Lausund zuvor das Thema ihres Stückes umrissen, und nach Publikumsbestätigung gieren tatsächlich die Akteure in ihrem Schutzraum Bühne: Macht durch Geschichten-Fälschung üben der „Komiker“ (Bernd Moss) und der verkannte Macho (Thomas Kügel) übereinander aus, lamentieren da-rüber, ob sie weiland im Hotel oder im Knast kampiert haben und welche Variante ihnen akut am besten in den Kram passt.
Marionetten hat Lausund geschaffen, hat gar nicht erst versucht, sie mit Individualhistorie oder genetisch programmierten Charakterzügen auszustatten: Zwanghafte Verhaltensmuster und stetig wiederholte Erzählungen sind die einzigen Kennzeichen der Figuren, und auch dieser minimale Besitz gehört ihnen eigentlich nicht: Die Geschichten sind manipulierbar, bekommen, wenn die anderen es fordern, ein anderes Ende – etwa, wenn die Gruppe den Ex-Knasti dazu verdonnert, eine Kaulquappe gerettet zu haben. Dialoge ereignen sich selten, und Grundlegendes über die Figuren scheint auch nicht auf: Dass das Leben ein endloser Fluss sei, singt das Ensemble ein übers andere Mal – und dass sich etwas ändern müsse. Von einer Schneekugel (der Fessel eigener Verhaltensmuster?) erzählt an anderer Stelle die junge Frau.
Die Erwartungen anderer an den Einzelnen würden Thema des Stü-ckes sein, hatte Lausund prophezeit. Bizarr nur, dass solches in der Inszenierung nicht erkennbar ist: Stoisch nimmt vielmehr jeder hin, was die anderen bieten, fiebert mit, lacht, stört die fremde Show. Und irgendwann sind alle Geschichten verbogen, umgeschrieben. „Jetzt habe ich gar nichts mehr“ stöhnt einer nach dem anderen – und dass die junge Frau ausbricht, hilft auch nicht viel weiter. Und das Publikum? Hat eine Handvoll Egozentriker belauscht, denen es egal war, ob andere ihre Geschichten hören wollten und die en passant mancherlei Interessantes über manipulierbare Geschichten offenbart haben. Mehr leider nicht.
Petra Schellen
Nächste Vorstellungen: 8., 13.. 15., 31. 10., 21 Uhr, 14.10., 19 Uhr, Neues Cinema, Steindamm 45
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen