: Call me Unglück
Schön, das alle so schön traurig sind: Thomas Ostermeiers Salzburger Inszenierung von Jan Fosses Familientristesse „Der Name“ ist jetzt auch an der Schaubühne zu sehen
„Schäbiges Wohnzimmer“, notiert der Kritiker neben mir auf seinem Block. „Hübsch hier!“, sagt der Junge im grünen Norwegerpulli, der eben dieses Zimmer betreten hat. Wie auf Stichwort hat der Regen aufgehört, hinter den hässlichen Gardinen draußen an der Scheibe herunterzufließen. Das Mädchen, das links auf dem Sofa sitzt, ist hochschwanger. Der Junge geht nach rechts zu einer Kommode, wo er ein paar Familienfotos betrachtet. „Scandinavia-Möbel“, schreibt der Kritiker nebenan auf seinen Block.
Das Mädchen redet. Der Junge versucht, ihr zu antworten. „Du hörst ja nie zu“, sagt sie dann immer. Dabei muss er doch sehr genau zugehört haben. Woher sonst sollte er all die Details über ihre Familie wissen, der er heute Abend schließlich zum ersten Mal begegnen wird. Aber das Mädchen gibt ihm keine Chance. Leute, die in so verwohnten Zimmern leben, haben sowieso nie eine Chance. Das ist die Logik des neuen Schaubühnenrealismus.
Der Junge hat keinen Namen. Beziehungsweise fragt keiner danach, ob er einen hat. Aber das Kind, das er mit dem Mädchen Beate gezeugt hat, soll mal einen Namen bekommen. So heißt das Stück, mit dem der norwegische Schriftsteller und Dramatiker Jon Fosse (Jahrgang 1959) jetzt ziemlich berühmt geworden ist, ganz einfach „Der Name“. Thomas Ostermeier hat es im Sommer für die Salzburger Festspiele inszeniert. Jetzt war die Berliner Premiere. Und in den Dramaturgien vieler deutscher Theater sitzen wahrscheinlich schon die Nachspieler in den Startlöchern.
„Der Name“ behandelt ein namenloses Unglück. Es gibt keine Schuldigen. Keine bösen Eltern, die sind heute selber unglücklich. Auch keine ungerechten politischen Verhältnisse, denn eine Welt jenseits dieses verwohnten Zimmers ist gar nicht mehr vorstellbar. Das Unglück gebiert sich selbst und sucht sich seine Opfer. Thomas Ostermeier hat das ziemlich virtuos inszeniert. Das Interieur, die Menschen, die Art, wie sie miteinander umgehen: alles wirkt so echt, dass man beim Verlassen des Theaters am Ende glaubt, dass es draußen wirklich regnet, und in der Tasche schon mal nach dem Regenschirm kramt.
Den trockenen Kurfürstendamm betritt man auch mit ziemlichem Realitätsverlust. Drinnen hatte man sehr knappe zwei Stunden lang einer Familie und ihrer Tristesse zugeschaut. Der Mutter (Stephanie Eidt) zum Beispiel, die mit seltsamer Beharrlichkeit immer noch eine Restflamme an Leben humpelnd vor sich herträgt. Der Schwester (Jule Böwe), die wahrscheinlich von einer ans Dämliche grenzenden Naivität davor geschützt sein wird, je an der Dunkelheit zu leiden, in der sie lebt. Dem Vater (Hans Fleischmann), der sich hinter der Zeitung vor der Welt verschanzt, wie der Junge (Jens Harzer) hinter seinem Buch. Und schließlich dem Mädchen Beate (Anja-Marlene Korpiun), deren Haltung dem Leben gegenüber ein einziger Vorwurf ist.
Von all dem Unglück war das Publikum am Ende ziemlich begeistert. Es brüllte „Bravo“, trampelte und applaudierte. Der Kritiker neben mir hat eifrig mitgeschrieben – um jedes realistisches Detail akribisch zu dokumentieren. ESTHER SLEVOGT
Die nächsten Vorstellungen: Heute, 5., 6. und 8. Oktober, Schaubühne am Lehniner Platz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen