medien, mündigkeit, blauäugigkeit etc.
: Politik in Zeiten der zerstreuten Öffentlichkeit

Hehre Ideale, regionale Akteure

Als Jürgen Habermas 1962 den Strukturwandel der Öffentlichkeit beschrieb, konnte man noch der Entstehung eines einheitlichen Gemeinsinns nachspüren. Sein Prinzip lautete, jede politische Entscheidung auf den Richtplatz der aufgeklärten Kritik zu führen, um die dunklen Interessen der Macht der Sichtbarkeit und der öffentlichen Teilhabe preiszugeben. Heute mag man an die Öffentlichkeit nicht mehr recht glauben; als Singular jedenfalls gibt es sie nicht mehr, seit die technischen Medien Programme für jedes nur erdenkliche Interesse erzeugen. Statt der einen Öffentlichkeit im Auftrag des Gemeinwohls haben die Medien die Rentabilität der Lifestyle-Milieus, die fröhliche Zerstreuung und die Poetik der reinen Kommunikation entdeckt: Chat-Groups und E-Mail-Netzwerke kommunizieren um der Kommunikation willen; unterschiedliche Bildungsniveaus und entlegenste private Vorlieben spalten den Gemeinsinn.

Dass die Demokratie, die Teilhabe für alle unter der Mühe des Engagements verspricht, damit im Kern getroffen ist, werden Politiker nicht müde zu betonen, und man will kurieren, was der Kur bedarf. Dabei hat sich die Öffentlichkeit der unverdrossenen Aufklärer längst in die schillernde Mehrzahl von Teilöffentlichkeiten zerlegt, sodass der Gemeinsinn nicht mehr unter der alten Adresse des öffentlichen Diskurses aufzutreiben ist. Der Umzug in die diversen Programme, Codes und multimedialen Komplexe hat jedenfalls unumkehrbar stattgefunden, weil er von einer Spedition befördert wurde, die Ökonomie heißt und die die Kosten des Transports zu Recht als erfolgversprechende Investition verstanden hat. Abschalten ist als kulturelle Praxis demgemäß selten geworden, und das mitternächtliche Rauschen der Kanäle, das zum Charme der öffentlich-rechtlichen Sender gehörte, hat der Dauersendung Platz gemacht. Alles hat eine Ende, nur die Sendung nicht.

Wenn dies die Diagnose ist, muss ein Gespräch her, das eine gemeinsame Plattform wenigstens in Aussicht stellt. Allerdings: Politiker, Medienwissenschaftler und Medienmacher mögen den Kanal der wechselseitigen Verständigung zwar öffnen, doch das Verstandenwerden bleibt erfahrungsgemäß auf der Strecke. Denn wer die zerstreuten Öffentlichkeiten als soziologisches Apriori der modernen Gesellschaft erst einmal geschluckt hat, wird ihren Rücklaufeffekt nicht übersehen können – was bedeutet, dass sich das Faktum der Teilöffentlichkeiten unaufhaltsam in die Rede über sie fortsetzt. Statt des einen Diskurses, von dem man Orientierung und Lösungen erhofft, flottieren die Reden aneinander vorbei, weil sich über den Interessen, Diagnosen und – auch davon ist immerhin die Rede – den „Idealen“ von Politik, Wissenschaft und Medienindustrie kein gemeinsamer Himmel schließt. Noch die Tagung „Zerstreute Öffentlichkeiten – Zur Programmierung des Gemeinsinns“, die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität vergangene Woche in Berlin ausrichtete, zeigte dies in einem Maße, das zwar nicht an der Berechtigung eines solchen Gesprächs, wohl aber an dessen unterstellter Vermittlungskraft zweifeln ließ. Die öffentliche Diskussion, soweit sie nicht ohnehin in die Zirkel voraussetzungsvoller und praxisferner Sprachregeln abgewandert ist, findet eben zu keinem öffentlichen Ganzen. Statt dessen wird sie von regionalen Akteuren geprägt.

Da ist zum einen der Medienwissenschaftler oder, soweit er sich vom Verdacht der empirischen Forschung rein halten möchte, der Medientheoretiker. Er wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass alle medialen Innovationen vom Radio bis zum Internet einer gemeinsamen militärischen Herkunft entspringen, weil alle Nachrichtentechnik, lange bevor Privatsender Quotenkriege entfacht haben, immer handgreifliche Kriegstechnik gewesen ist. Selbstverständlich provoziert dies die demokratische Gutmütigkeit der Politik ebenso wie die medientheoretische Einsicht, dass die Apparate auf der Ebene der Information nicht unterscheiden und insofern alle Verantwortungs- und Moralisierungsappelle wirkungslos verpuffen lassen: Die Medien sind mündig, in einem zynischen Sinne vielleicht mündiger als alle Bürger.

Zum anderen ist da der Medienmacher. Er scheint sich, bevor er aus den Redaktionen und Rundfunkanstalten berichtet, zunächst einen Blaumann überstreifen zu wollen, um anzuzeigen, dass er, wie einst Bert Brecht, in der täglichen Arbeit steht, den Schmutz des Geschäfts nicht fürchtet und das Gespräch nur so lange schätzt, wie es Aufmerksamkeit für die benachteiligten Ressorts – Wissenschaft und Kultur etwa – garantiert.

Vor allem aber ist es die Politik, der die Diffusion des Gemeinsinns durch die Mediennetze zu schaffen macht. Denn sie hat einerseits damit zu kämpfen, dass sich der direkte Zugriff auf das Publikum der mündigen Bürger in den medialen Kanälen verflüchtigt hat und insofern ein massives Vermittlungsproblem auftritt – wie und wo erreicht die Politik noch ihre Bürger, wenn die Öffentlichkeit nicht mehr dort ist, wo man sie traditionell antraf? Und andererseits: Muss sich die Politik nicht mit einem Machtprinzip arrangieren, das kaum mehr in der Interaktion mit einem öffentlichen Korrektiv angesiedelt ist, sondern das die Macht bei denen sieht, die im Sinne von Netzhegemonien darüber entscheiden, wer überhaupt gesendet und was veröffentlicht wird? Wählern mit treuen Augen weiterhin operative Aufrichtigkeit zu garantieren und demokratisches Engagement abzuverlangen hilft hier kaum weiter, und vielleicht verbirgt sich hinter der viel zitierten Politikverdrossenheit nur die Abwehr jener kognitiven Unterforderung, die die Politik ihren Bürgern seit langem zumutet. Die zerstreuten Öffentlichkeiten sind letztlich nur so dramatisch, wie es die Struktur der modernen Gesellschaft selbst ist, weil das Prinzip der funktionalen Differenzierung einen regulativen Gemeinsinn nicht erst seit dem Internet unmöglich gemacht hat. Auch wenn die Politik jeden wissenschaftlichen Zugriff für realitätsfern hält – ein Minimum an soziologischer Analyse würde helfen einzusehen, dass das Politische keinen „öffentlichen“ Relevanzvorrang besitzt. Bei der Klärung ihrer Operationsvoraussetzungen jedenfalls werden der Politik alle Appelle an die politische Verantwortung der Medien nicht helfen.

INGO STÖCKMANN