: Polyphones Kopfweh
Der Schauspieler triumphiert, Text und These dürfen noch entdeckt werden: Uraufführung von Tom Peuckerts „Artaud erinnert sich“ mit Martin Wuttke
von REGINE BRUCKMANN
Dieser Triumph war absehbar. Schon das erste Sich-hinein-Schreien in den Text macht klar, dass Martin Wuttke vor allem ein Ziel hat: eine unvergessliche Rolle zu kreieren und ein Ewigkeitseckchen im Bühnenhimmel für sich zu reservieren. „Kopfschmerz, allerungeheuerlichster Kopfschmerz!“, kreischt er, und Qual und Wahn Artauds haben hier schon den Ton gefunden. Wuttke haucht und hechelt, starrt und stiert, fistelt und faselt, kurz, er triumphiert über einen Text, den er zu prägen wünscht – und den wir doch durch ihn noch nicht kennen gelernt haben. Wuttke ist Artaud, aber auch Arturo Ui, also Hitler, er springt in Miene und Ausdruck, ist sehr viele oder auch einfach niemand, ein polyphoner Irrer, eine Kunstfigur.
Tom Peuckert beschreibt in seinem Monolog „Artaud erinnert sich an Hitler und an das romanische Café“ die fiktive Begegnung des französischen Schauspielers und Theatertheoretikers Antonin Artaud mit Adolf Hitler im Jahre 1932. Ein kurzer Brief Artauds, geschrieben in der psychiatrischen Anstalt Rodez 1943 –„für adolf HITLER“ – gab den Anlass zu dem Gedankenspiel, vom Autoren „eine Halluzination“ genannt. Peuckert tritt mit schraubendem Sprachgestus, mit Wiederholungen, Beschimpfungen und substantivierenden Sprachschöpfungen so unverhohlen in die Fußstapfen von Thomas Bernhard, dass der Plagiatsvorwurf sofort von der erkennbaren Absicht einer Hommage entkräftet wird. Wie die Bernhardschen Helden ist Artaud, der schon als Kind an Meningitis erkrankte und nie vollkommen gesundete, hier ein aus der Gesellschaft Ausgegrenzter, ein genialer Verlierer, der sich in Hasstiraden über die Verlogenheit des künstlerischen Establishments ergeht.
In seinem ersten Theaterstück stellt der 38-jährige gebürtige Leipziger Tom Peuckert, bisher freier Autor für Radio, TV und Zeitung, eine These auf, die das heutige von Bewunderung geprägte Artaud-Verständnis eigentlich provozieren müsste. Artauds Kritik an der rationalistischen Kultur Europas, sein Wunsch, das Theater mit den Kräften der Magie und der Emotion zu revolutionieren, sein Postulat eines „Theaters der Grausamkeit“ lässt ihn überraschend leicht in die Nähe einer faschistoiden Ästhetik gleiten. Hitler wird in Peuckerts „Halluzination“ zum radikalen Hoffnungsträger des enttäuschten Artaud: „Antibürgerlichkeitstheater / Grausames Theater / Hitlers Kopfschmerztheater“.
Es ist übrigens auch ein Abend des Selbstzitates. Wie Wuttke seinen „Arturo Ui“ aus der großen Heiner-Müller-Inszenierung mitbringt und Peuckert seinen Bernhard, so bedient sich Regisseur Paul Plamper beim BE-Oberspielleiter Philipp Tiedemann. Wie in dessen Bernhard-Inszenierung „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ steckt der Protagonist in einer Schachtel, in einem Bühnengefängnis und genau wie der Wahnsinnige dort muss Artaud sich hier die Sicht nach draußen erst frei reißen aus einer Wand aus Papier.
Wuttke als Artaud übt sich in plakativer Pose, überdeutlich und illustrativ ist sein Spiel, fast kindlich sein Bemühen, den Sinn der Worte slapstickartig zu veräußern: Er spricht „Körper“ und zeigt seinen Bauch, er streckt sich, um Größe zu zeigen und zu „reinigenden“ Worten wischt er die Scheibe, die ihn von der Außenwelt trennt. Ein Schauspieler, der Wirkung will und auch erzielt, ein Theatermacher, der das Publikum am Gängelband seiner Tricks führt. Hitler sein, Artaud sein – es gibt Momente, wo zu sehen ist, was das heißen könnte. Wenn Wuttke den Hitler aus sich herauswürgt, ein Übelkeit erregendes zweites Ich, oder die tonlose Selbstanrufung „Ich, Artaud“, und da ist nur das Weiße in seinen Augen.
Trotzdem: Peuckerts anspielungsreiche und historisch genaue Reflexion über den gefährlichen Balanceakt, den eine Kunst vollführt, die sich selbst als „radikal surreal feuriges Wollen“ beschreibt, ist nicht ausgelotet worden. „Ich bin ein Fanatiker. Ich bin kein Verrückter“, schreibt Artaud nach der Einlieferung in die Anstalt 1939. Wer aber Artaud so versiert wie Wuttke und Plamper zum Irren macht, hat das durchaus Faszinierende dieses Fanatismus verharmlost und in Unterhaltungskunst verwandelt: rauschender Applaus für Martin Wuttke.
Nächste Vorstellungen am 6. 10., 21 Uhr u. 11. 10., 23 Uhr, Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte
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