rund um den wedding
: Mit Balkon leben Ostfriesen gern auf Linoleum

Langhaarige bleiben unten

Mein Freund Bernd Boekhoff ist aus Ostfriesland direkt nach Berlin-Wedding gezogen. Wir haben gewettet, wie lange er es dort aushält. Ich habe ihm keine zwei Monate gegeben. Inzwischen lebt er schon etwa ein Jahr in einer kleinen Neubauwohnung im fünften Stock. Er hat einen Balkon, da saßen wir den Sommer über und tranken das Bier leer, das ich durch die Wette verloren hatte. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte. Außer diesem Balkon hat die Wohnung keine Vorteile. Das Gebäude ist hellhörig, an der Decke sind Wasserflecken, alle paar Wochen geht eine Strom- oder Wasserleitung kaputt, in den dunklen Gängen riecht es nach Urin, und im Hof lärmen die Kinder der anderen Mitbewohner. Die Besuche sind seltener geworden, seit ich meinen Wetteinsatz eingelöst habe.

Meist treffen wir uns jetzt bei mir oder in einer Kneipe, die in Mitte liegt. Ihm ist meine Abwesenheit aufgefallen und er meint, dass ich ein „Altbauspießer“ sei, seitdem ich in Berlin lebe. Vorher hätten mich niedrige Decken und Linoleum nicht gestört. Und er meint auch, ich könne nie wieder wegziehen. Wir haben gewettet. Er hat gute Chancen zu gewinnen.

Neulich rief er bei mir an und fragte, ob er eine Weile bei mir wohnen könne. Bei ihm werde gerade im Hof Zement ausgegossen, den ganzen Tag seien Handwerker dabei, etwas zu errichten, er könne sich nicht konzentrieren. So kam es, dass Bernd Boekhoff bei mir einzog und sich mit Altbauten anfreundete. Das hat er natürlich nicht zugegeben, aber dass ich ihn nur schwer wieder losgeworden bin, ist mir Beweis genug. Dann habe ich eine ganze Weile nichts von ihm gehört. Ich rief ihn auf seinem Handy an. Er sagte: Ich sitze gerade auf dem Balkon und der Ausblick ist besser als vorher. Was haben sie denn nun gebaut, fragte ich. Eine Kletterwand, sagte er, den ganzen Tag hecheln sie die Wand rauf und runter, aber bisher hat es keiner bis zur Spitze geschafft. Das musst du dir ansehen.

Also fuhr ich in den Wedding. Wir saßen mehrere Stunden auf dem Balkon, tranken Bier und feuerten die Kletterer an. Auf den umliegenden Balkonen hatten sich die anderen Hausbewohner versammelt, man hatte zusammengelegt, 500 Mark sollte derjenige erhalten, der es schaffte, bis ganz nach oben zu kommen. Mehrere Abende füllten wir damit, den schwitzenden Hobbysportlern zuzusehen. Dann wurde es uns zu langweilig, und auch die anderen Hausbewohner blieben vor dem Fernseher. Wir gingen wieder ins Kino und in Clubs, bis er mich anrief und fragte, ob er wieder bei mir wohnen könne. Nur für ein paar Tage, sagte er. Was ist denn los, fragte ich, und was ist das überhaupt für ein Geräusch im Hintergrund? Das sind die Kinder, sagte er, die sitzen jetzt den ganzen Tag oben auf dem Klettergerüst, schlagen mit Stöcken gegen Blechbüchsen und feuern die Langhaarigen an, die immer noch nicht hochkommen.

JAN BRANDT