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Antwort auf ein Urteil

Polizeieinsatz, Tränengas, Verletzte – in Belgrad eskaliert die angestaute Gewalt zwischen Demonstranten und Polizei

von ANDREJ IVANJI und RÜDIGER ROSSIG

Die Gesichter der Demonstranten sind verzerrt, einige schreien Parolen. Skinheads mit grünen Bomberjacken und Militärstiefeln tragen ein rotes Plakat mit einer Faust darauf – das Emblem des studentischen Widerstandsnetzwerks „Otpor“. Langhaarige Althippies feuern zusammen mit Leuten, die eigentlich wie typische Familienväter aussehen, die Glatzen an.

Dann greift die Polizei, die in Jugoslawien auch zehn Jahre nach Ende des offiziellen Kommunismus noch immer „Milicija“ heißt, an. Plötzlich ruft irgendwer: „Das Parlament brennt!“ Das Gerücht, Demonstranten hätten versucht, mit Steinen die Türen zur „skupcina“ aufzubrechen, verbreitet sich. Wenig später heißt es, die Polizisten seien mit Tränengas gegen die Menge vorgegangen. CNN meldet, mindestens fünf Personen seien verletzt worden, hunderte in Panik geflohen. Mehrere Polizeifahrzeuge sollen brennen.

In Belgrad herrscht das Chaos. Dabei hatte das Ganze so friedlich begonnen. Den ganzen gestrigen Vormittag nähern sich kilometerlange Autokolonnen aus ganz Serbien der jugoslawischen Hauptstadt. Um Punkt 15 Uhr lief das Ultimatum aus, das die Demokratische Opposition Serbiens DOS dem amtierenden jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević gestellt hatte. Doch statt zurückzutreten und sein Amt an den siegreichen Herausforderer zu übergeben lässt Milošević sein Verfassungsgericht verkünden, die Wahl sei in Teilen ungültig und müsse wiederholt werden.

Mit dieser Form eines „Einlenkens“ hatten die Oppositionsführer offenbar nicht gerechnet. Nicht einmal die Konturen einer DOS-Strategie zur Überwindung der Pattposition war für die Bürger erkennbar. Trotzdem kamen hunderttausende. Bereits gestern Morgen hatten unabhängige lokale Radiosender gemeldet, das „Volk“ sei „aufgestanden“ und haben „alle Polizeisperren erfolgreich durchbrochen“.

Auf dem Weg nach Belgrad waren die Demonstranten auf verschiedenste Weise behindert worden. Der unübersichtlichen Autokolonne aus den Provinzstädten Kraljevo und Čačak etwa hatte ein zweihundert Mann starker Polizeikordon in voller Kampfausrüstung den Weg versperrt. Zudem blockierte ein Feuerwehrwagen die Straße.

Die Polizei drohte damit, Gewalt anzuwenden. Doch ein Autobus der Demonstranten schob alle Blockaden weg, die Menschenmasse drängt die Polizisten zur Seite, die Kolonne setzte ihren Weg nach Belgrad triumphierend fort.

„Die Polizei hatte die Wahl, entweder sich zurückzuziehen oder zu schießen. Und auf das eigene Volk werden sie wohl niemals schießen“, sagte ein Mann aus der Kolonne über das Handy gegenüber einem Belgrader Radiosender. Doch schon am Vormittag kam es zu einem ersten Zwischenfall vor dem Bundesparlament, als die Polizei versuchte, eine Gruppe von Demonstranten mit Tränengas daran zu hindern, in das Gebäude einzudringen. Ein böses Zeichen am „Tag der Entscheidung“. Schon forderten die ersten Demonstranten, das Parlament entweder sofort mit Gewalt zu stürmen oder überhaupt nicht mehr wegzugehen, bis Koštunica sein Kabinett besetzt.

Schon um die Mittagszeit war der Verkehr im Stadtzentrum zusammengebrochen. Mehrere Demonstrantengruppen waren separat durch die Stadt marschiert: Studenten, Schüler, Anhänger der Opposition, die ohne konkreten Plan aus allen Stadtteilen der jugoslawischen Hauptstadt gekommen waren. Die Stimmung wurde immer explosiver, die ganze Innenstadt dröhnte von Protestrufen, Trillerpfeifen und Trommlern.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten die Oppositionsführer begreifen müssen, dass die Situation im Laufe des Tages außer Kontrolle geraten könnte. Doch die Aufrufe, auf gewalttätige Auseinandersetzungen zu verzichten, verhallten ungehört.

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