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Vertreibung aus dem Paradies

22 Staudämme und 17 Wasserkraftwerke sollen den Südosten der Türkei in eine wirtschaftlich florierende Region verwandeln. Dörfer und historische Siedlungen sollen dafür geflutet werden. Vor Ort regt sich Widerstand, auch die öffentliche Meinung in Deutschland könnte die Realisierung beeinflussen

von JÜRGEN GOTTSCHLICH

Zu den Mythen, die bis in die Frühzeit der Menschheitsgeschichte zurückreichen, gehört der Glaube an ein Paradies. Ein Ort, der Sicherheit bietet und durch Früchte in Hülle und Fülle den täglichen Überlebenskampf überflüssig macht. Ein solcher Ort liegt versteckt vor den Blicken durchziehender marodierender Horden verborgen. Er ist grün, hat viel Wasser und ein angenehmes Klima.

Wer im Südosten der Türkei die Hauptstraße entlang der syrischen Grenze verlässt und kurz nach Birecik auf einer kleinen, kurvenreichen Straße, ungefähr vierzig Kilometer nach Norden fährt, sieht den Mythos Wirklichkeit werden. Von einem kahlen, ausgetrockneten Höhenzug aus schaut man tief in ein Tal hinunter. Es ist grün, voller Pistazien-, Aprikosen- und Pfirsichbäume. Während oben ein heißer Wind über das Hochplateau fegt, herrscht unten eine angenehme Temperatur. Geschaffen hat dieses Paradies ein Fluss, der Oberlauf des großen Euphrat, der sich tief in den Kalkstein gegraben hat. Schon vor mehr als zweitausend Jahren haben Menschen hier gelebt und auch die meisten Häuser, die jetzt im Tal, in einer Biegung des Euphrat stehen, sind weit über hundert Jahre alt. Der Ort heißt Halfeti.

Es dauert vielleicht noch zwei oder drei Monate, dann wird Halfeti nur noch Legende sein. Seit Ende Mai steigt der Euphrat jeden Tag weiter an, Tag für Tag verschwindet ein Teil des grünen Tals und ein Teil von Halfeti. Nach dem Bau eines Staudamms, rund dreißig Kilometer weiter den Euphrat herunter, läuft das Tal langsam voll. Wenn der Staudamm im Herbst endgültig aufgefüllt ist, stehen in Halfeti nur noch die am höchsten gelegenen Häuser oberhalb der Wasserlinie und der größte Teil der üppigen, grünen Gärten wird verschwunden sein. Betroffen davon ist auch eine uralte Burg, Rumkale, einst von den Assyrern gebaut, später von armenischen Christen besetzt. Hier, so eine der vielen Legenden, soll der Evangelist Johannes ein Teil seiner Jesusgeschichte geschrieben haben. Zu Beginn das letzten Jahrhunderts war Halfeti noch ein überwiegend armenisch-christlich besiedelter Ort. Das änderte sich erst mit der Vertreibung und Ermordung der Armenier im Ersten Weltkrieg.

Für Vokas Anac, einen weißhaarigen Patriarchen um die siebzig, der kaum noch Zähne im Mund, aber dafür noch einen erstaunlichen festen Händedruck hat, versinkt sein Lebenswerk. Er besaß einen großen Garten mit Obst und Nussbäumen, bester Boden und sehr ertragreich. Mitten darin, direkt am Wasser, ein schöner Teegarten. Beides ist in den Fluten versunken. 4,5 Milliarden Lira, knapp fünfzehntausend Mark, Entschädigung hat er dafür bekommen. Vokas Anac gehört zu den wenigen, die auf diese kümmerliche staatliche Erstattung nicht angewiesen sind. Er hat noch zwei Häuser, die von dem Wasser verschont bleiben, und Kinder in Deutschland, die Geld schicken.

Andere haben um ihre Entschädigungen kämpfen müssen und zuletzt verbittert aufgegeben. „Mein Land und mein Haus“, erzählt ein Nachbar von Anac, „wurden 1997 taxiert und ein Preis festgesetzt. Das Geld soll ich jetzt, drei Jahre später bekommen. Bei einer jährlichen Inflation von siebzig Prozent ist es fast nichts mehr wert.“ Einige haben gegen diese offensichtliche Ungerechtigkeit geklagt und auch gewonnen. „Doch der Prozess dauert ebenfalls zwei Jahre, dadurch wird das Geld auch nicht mehr.“ Auch die Ersatzhäuser, die die Bewohner von Halfeti vom Staat angeboten bekommen haben, lässt die meisten daran denken, gleich ganz zu verschwinden und in die Stadt nach Urfa oder Gaziantep zu ziehen. Oben auf der kargen Hochebene, in einer genormten Reihenhaussiedlung, ohne jeden Baum und Strauch, der Sonne und dem Wind schutzlos ausgeliefert, fristen einige frühere Bewohner Halfetis ein tristes Dasein. Eine moderne Variante der Vertreibung aus dem Paradies.

Bei einem Staudamm gewinnen immer neunundvierzig und einer verliert“, meint dazu Mehmet Acikgöz, ein Mitarbeiter des regionalen GAP-Büros in Urfa, achselzuckend. GAP ist das Kürzel für Südost-Anatolien-Projekt, das größte Infrastrukturprojekt der Türkei, mit dem vor dreißig Jahren begonnen wurde und das nun langsam seiner Vollendung zugeht. Der im Mai fertiggestellte Birecik-Damm, in dessen Wasser Halfeti versinkt, ist Teil dieses Programms. Wie Halfeti sind in den letzten zwanzig Jahren, seit die ersten Dämme errichtet wurden, hunderte von Dörfern verschwunden und tausende von Bauernfamilien umgesiedelt worden.

Das sind jedoch nur ein Teil der Probleme, die durch GAP entstanden sind. Durch den Bau der Staudämme hat sich die Türkei einen erbitterten Konflikt mit Syrien und in abgeschwächter Form auch mit dem Irak eingehandelt, die beide an den Unterläufen der Flüsse liegen und befürchten, dass zukünftig viel weniger von dem kostbaren Nass noch bei ihnen ankommt.

Doch erstaunlich genug, GAP ist, trotz aller Probleme, trotz Militärputsch und ständig wechselnden Regierungen, das einzige ökonomisch-politische Projekt, das in der Türkei über dreißig Jahre kontinuierlich weiter verfolgt wurde. Aus gutem Grund, denn mit GAP werden gleich drei wichtige Ziele verfolgt: die strategische Kontrolle über das Wasser der beiden größten Flüsse des Landes sowie die Produktion dringend notwendiger Energie durch die Wasserkraftwerke. Mit der Bewässerung großer Flächen soll der unterentwickelte, überwiegend kurdische besiedelte Südosten des Landes Anschluss an den Westen bekommen.

Angesichts solcher Pläne werden Denkmale der Menschheitsgeschichte zu einer relativen Größe, nicht nur in Halfeti. Was am Euphrat bereits passiert ist, steht Hasankeyf am Tigris in den kommenden Jahren bevor. Seit wann es in Hasankeyf menschliche Siedlungen gibt, ist unter Archäologen umstritten, sicher jedoch ist, dass es bereits mehrere tausend Jahre sind. Hasankeyf besteht aus einem Felsen mit einer Burg und ausgedehnten mittelalterlichen Wohnanlagen, die hoch über den Tigris hinausragen und an dessen Fuß eine Furt durch den Fluss führt. In den Felsen entlang des Ufers gibt es zahlreiche Höhlen, die seit der Frühzeit als Behausungen dienten. Durch die Furt am Tigris war Hasankeyf schon in der Antike ein Handelsplatz und Knotenpunkt auf dem Weg von Kleinasien nach Persien und weiter nach Indien. Hasankeyf birgt Zeugnisse assyrischer, römischer, byzantinischer, türkischer und kurdischer Kultur. Zu Beginn des ersten Jahrtausends war die Stadt Hauptsitz der türkischen Artukiden-Dynastie, eine wertvolle Hinterlassenschaft in der Geschichte der türkischen Besiedlung Kleinasiens.

Das moderne Hasankeyf dagegen ist ein ziemlich heruntergekommener Ort, dessen Attraktion die in den Tigris gebauten Fischrestaurants sind. „Seit 1980 die Entscheidung fiel, den Ilisu-Damm zu bauen, ist hier keine müde Lira mehr investiert worden“, erzählt Bürgermeister Vahap Kusen. „Die Leute gehören zu den Ärmsten der Gegend. Doch Hasankeyf ist so reich an Geschichte, dass es einfach nicht untergehen darf.“

Seit die Überflutung der römischen Siedlung Zeugma in der Nähe von Halfeti in diesem Jahr international für Wirbel sorgte, wächst in Hasankeyf die Hoffnung, dass der Ort vielleicht doch gerettet werden könnte. „Die Aufmerksamkeit für Hasankeyf im Ausland ist größer geworden, vielleicht kommt es zu einem Kompromiss“, hofft der Bürgermeister. Tatsächlich fällt die Entscheidung über das Schicksal von Hasankeyf nicht nur in Ankara. Der Ilisu-Damm soll von einem Konsortium europäischer Firmen unter Führung eines Schweizer Unternehmens gebaut werden. Die Firmen sollen dann über einen zuvor festgelegten Zeitraum den Strom, der am Ilisu-Damm produziert wird, verkaufen. Sie hoffen, dadurch nicht nur die Baukosten hereinzubekommen, sondern auch Gewinne zu erzielen.

Da die Finanzierung aber mit staatlichen Bürgschaften in der Schweiz, Deutschland und England abgesichert werden muss, ist die öffentliche Meinung in Europa nicht unbedeutend. Entsprechend argwöhnisch werden ausländische Besucher von den Sicherheitsorganen beobachtet. Journalisten werden schon mal von der Zivilpolizei aus der Kreisstadt Batman bis ins Vorzimmer des Bürgermeisters begleitet, und zwei englischen Parlamentsabgeordneten nahm die Geheimpolizei bei einem Besuch in Hasankeyf sogar ihre Pässe ab. Auch in der Türkei gibt es bereits eine überregionale Bürgerinitiative die unter dem Motto „Hasankeyf darf nicht sterben“ für Aufmerksamkeit sorgt. Auch Paradiese können nur überleben, wenn sie die richtige Lobby haben.

JÜRGEN GOTTSCHLICH, 46, ist seit 1998 Korrespondent der taz in Istanbul

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