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Die Verdammnis naht

Vergangenes Jahr ging alles sehr schnell. Diesmal spannt uns die Schwedische Akademie wieder auf die Folter. Das Lieblingsspiel des Literaturbetriebs heißt gerade mal wieder: Nobelpreisraten

von REINHARD WOLFF

Eine „anhaltende Uneinigkeit“ im Nobelkomitee wusste die Deutsche Presseagentur diese Woche aus Stockholm zu vermelden. Und die habe die Bekanntgabe des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers verzögert, welche eigentlich am vorgestrigen Donnerstag hätte erfolgen sollen. Auf deutschen Kulturseiten löste die Meldung ein spekulatives Blätterrauschen aus. In Schweden selbst wurde sie entweder überhaupt nicht vermeldet oder gar kommentiert, allenfalls als Fünfzeilen-Kurzmeldung pflichtbewusst vermerkt. Was nicht bedeuten muss, dass da nicht tatsächlich ein Mitglied der Schwedischen Akademie geplaudert hat. Sollte man außerplanmäßig noch nicht ganz zu Potte gekommen sein, so wäre dies aber zunächst einmal auch nichts Außergewöhnliches. Einen festen Termin für die Bekanntgabe des Literaturnobelpreises gibt es nicht. Außer dass es immer ein Donnerstag ist, der Wochentag, an dem das Gremium tagt. Und dass es in aller Regel ein Oktoberdonnerstag ist, meist der zweite im Monat. Und der wird es vermutlich auch in diesem Jahr wieder sein.

Im vergangenen Jahr war man auffallend früh einig geworden. Bereits am letzten Septemberdonnerstag hatte man sich beeilt, Günter Grass zu benennen. Es muss Einigkeit bestehen bei den 18 Komiteemitgliedern – was bei Grass offenbar sofort der Fall war. Dem Gruppenbild mit Dame wird regelmäßig im September eine Liste von fünf Vorschlägen unterbreitet, welche ein fünfköpfiges Vorauswahlgremium seinerseits aus Hunderten von Vorschlägen ausgesiebt hat, die von LiteraturwissenschaftlerInnen aus aller Welt eingereicht werden. Wer zur eigenen Freude und der seines Verlags dann das Rennen macht, ist ebensooft selbstverständlich oder überfällig – so im letzten Jahr bei Grass –, wie es ein Rätsel ist, das sich, wenn überhaupt, dann vielleicht erst nach Jahrzehnten verstehen lässt, wenn die geheimen internen Protokolle veröffentlicht werden.

So, als 1986 mit dem Erscheinen eines Buches zum 200. Geburtstag der Schwedischen Akademie – Kjell Espmark: „Det litteräre Nobelpriset“ – aus altem Archivmaterial klar wurde, warum die Akademie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lieber reihenweise Nieten ehrte, von denen mittlerweile selbst der Name längst vergessen ist, als solche Literaten wie Tolstoi, Zola, Ibsen oder Strindberg: Den Herren der Akademie passte die ganze Richtung nicht, was allerdings zu nicht geringem Teil der Stifter des Preises selbst, der Dynamitkönig Alfred Nobel, mit seinem Vermächtnis verschuldet hatte, es solle ein Werk „idealistischer Richtung“ geehrt werden. Für die Akademie war das der Gegensatz zu „materialistisch“, so dass sie sich jahrelang auf die Schriftsteller konzentrierten, in deren Lebenswerk man klare Anhaltspunkte für ihren Kampf um Tugend, Würde, Moral und deutlichem Bekenntnis zu Staat und Kirche finden konnte.

Mit der sich aus biologischen Gründen wechselnden Besetzung auf den 18 Stühlen der Akademie hat sich nach und nach diese Suche nach idealen Werten verwässert, und man versuchte sich stattdessen am „weltliterarischen Wert“ eines Werks zu orientieren. Von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre waren das oft weithin bekannte und gelesene Persönlichkeiten wie Anatole France, George Bernhard Shaw, Luigi Pirandello, André Gide, Albert Camus, Ernest Hemingway, William Faulkner. In den sechziger Jahren folgte die Zeit der Experimentierer und Erneuerer: Sartre – der den Preis ablehnte –, Samuel Beckett und Saint-John Perse. In den Siebzigern besann man sich auf Nobels Wunsch, Verfasser zu belohnen, welche unverdient nicht genügend Aufmerksamkeit geweckt hatten, wie Isaac Bashevis Singer und Czesław Miłosz. Um in den letzten beiden Jahrzehnten die Perspektive hin zu literarischen Regionen zu erweitern, die aus europäischer Sicht recht unbekannt sind: nach Japan, Nigeria, Ägypten.

Angeblich ist es auch diese Bevorzugung „exotischer Preisträger“, die weder Verlagen noch Buchhandlungen besonders gute Geschäfte verspricht, welche zur jetzigen „anhaltenden Uneinigkeit“, beziehungsweise den Gerüchten darüber geführt haben soll. Afrika ist an der Reihe, nachdem zuletzt Nadine Gordimer 1991 geehrt wurde. Der Nigerianer Ben Okri und der somalische Romancier Nuruddin Farrah gelten als heiße Tipps. Überraschend, wie die Akademie sein kann, könnte es aber doppelt unerwartet der Mexikaner Carlos Fuentes werden – obwohl oder weil sein Verlag die Dummheit begangen hat, für ihn zu auffällig die Trommel zu rühren. Was eigentlich verpönt ist, seit Gerüchte sagen, José Saramago sei damit erfolgreich gewesen. Andere Außenseitertipps: Doris Lessing, da irgendwann an der Reihe und immerhin schon über 80 Jahre alt, oder gar – was die eingefleischtesten Akademie-Hasser versöhnen würde – Astrid Lindgren?

Denn ein Lebenswerk, möglichst ein gut abgehangenes soll es auch jetzt, 99 Jahre nach der ersten Preisverleihung allemal sein. Das Durchschnittsalter der Prämierten liegt deutlich jenseits der Rentenschwelle. „Nur ein Menschenfeind kann auf so etwas Verdammtes wie den Nobelpreis spekulieren“, donnerte der 69-jährige George Bernhard Shaw, als er 1925 erfuhr, dass er selbst an der Reihe war. Weigerte sich ein Jahr lang, den Preis anzunehmen und schenkte das Geld einem Fonds. Doch konnte er auch damit dem Schicksal nicht entgehen, das ihn wie später William Faulkner, Ernest Hemingway und viele andere traf: Mit dem Nobelpreis aufs Monument gehoben, brachten sie danach nichts Vernünftiges mehr zu Papier. Oder starben zu allem Überfluss auch noch prompt kurze Zeit später weg, wie Theodor Mommsen, Albert Camus, Boris Pasternak, John Steinbeck oder Pablo Neruda.

Man muss also offenbar recht dickhäutig sein, will man den Literaturnobelpreis nicht nur überleben, sondern danach auch noch etwas produzieren. Und da kann man durchaus auch eine Woche zuwarten, bis die „anhaltende Uneinigkeit“ sich aufgelöst hat und bevor die „Verdammnis“ naht.

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