Der Klang der Stille

Früher Identifikationsfigur schwarzen Selbstbewusstseins, heute produktiver Eremit: Yusef Lateef, der Klangsucher zwischen Detroit und Nigeria. Ein Porträt zum 80. Geburtstag des Jazzmusikers

von MAXI SICKERT

Er ist „The Sound“. So nannte ihn Miles Davis, und es trifft immer noch zu: kraftvoll, raumgreifend, tief, erdig und klar als Tenorsaxofonist, Flötist und Oboist. Er ist „The Doctor“, wie er unter Musikern heißt – wegen der unterstellten Heilkraft seiner Musik, aber auch im akademischen Sinne, als Professor für Komposition und afroamerikanische Musik. Und er ist Muslim: Zweimal war Yusef Lateef bereits in Mekka. 1947 kam der am 9. Oktober 1920 geborene Musiker in Kontakt mit den Lehren des Islam; ein Jahr später konvertierte er und änderte seinen Namen von William Evans in Ibn Yusef Abdul Lateef: „Yusef“ steht für Josef, den Propheten, „Lateef“ ist Arabisch für „sanft, gütig“.

In den 50er-Jahren gehörte Lateef zu den einflussreichsten Flötisten der improvisierten Musik, und in den 60ern avancierte er zur Identifikationsfigur des neuen schwarzen Selbstbewusstseins. Seine Hits „Eboness“ und „Buddy And Lou“ schnellten auf Platz eins der Black Charts, daneben machte er sich in den Bands von Dizzy Gillespie und Cannonball Adderley einen Namen. Später jedoch litt die Qualität seiner Aufnahmen unter dem zwanghaften Zug, an frühere Erfolge anknüpfen zu wollen. Erst sein vierjähriger Aufenthalt in Nigeria, von 1981 bis 1985 und die Gründung seines privaten Plattenlabels YAL in den frühen 90ern brachten die Intensität zurück.

Nach der Geburt seines jüngsten Sohnes 1975 zog er sich zunehmend aus dem aktiven Musikerleben zurück; er komponierte und ging ins Studio, machte aber keine Tourneen mehr. In Nigeria nahm er einen Forschungsauftrag an der Universität von Zaira an. „Es gibt dort über dreihundert verschiedene ethnische Gruppen, jede Gruppe hat ihre eigenen Rhythmen, Melodien und tänzerischen Bewegungen. Die Tänze sind wie eine Sprache“, schildert er noch heute begeistert, was er damals lernte: „Afrikanische Musiker betrachten Musik anders und machen Instrumente anders. Zum Beispiel bauen sie eine Flöte mit einem bestimmten Klang, indem sie Spinnenmembranen einsetzen.“

Nach seiner Rückkehr aus Nigeria schrieb Yusef Lateef die Novelle „Night in the Garden of Love“, ein autobiografisches Märchen, das im Jahr 2001 spielt: Die Atmosphäre der Erde hat sich verändert, Menschen und Tiere sind mutiert. In einem schmutzigen Vorort leben ein einäugiger Mutant, der durch Bewegungen kommuniziert, und ein Musiker. Dieser denkt über Musik nach, über sein Saxofon. „Manchmal“, heißt es an einer Stelle, „wird der Klang durch Stille ersetzt: die letzte Kadenz, bewegungsloser Klang. Es ist das Gefühl, dass Nichts Etwas ist.“

Lateef war einer der Ersten im Jazz, die nichtwestliche Instrumente zur Erweiterung ihres musikalischen Ausdrucks einsetzten. Auf seinem ersten Savoy-Album „Jazz and the Sounds of Nature“ benutzte er eine Rabat, die ein Syrer für ihn in Detroit gebaut hatte: Der Ursprung dieser Flöte geht auf vorbiblische Zeiten zurück. Damals setzte er auch das Argol ein, eine doppelte Bambusflöte aus Syrien. Die Zahl seiner Instrumente kann Yusef Lateef nicht schätzen, immer wieder bekommt er Flöten geschenkt, von Freunden und von seinen Studenten. „Ich möchte nicht, dass meine Musik als Jazz bezeichnet wird, denn dieser Begriff ist nicht eindeutig. Ich mache autophysiopsychische Musik, die aus meinem physischen und spirituellen Selbst kommt“, sagt er heute dazu. Seine Jazz-Vergangenheit ist ihm inzwischen fern – auf der Internetseite findet sie kaum Erwähnung. Heute lebt Yusef Lateef, inzwischen schon Urgroßvater, als Professor in Amherst, Massachusetts. Im Augenblick schreibt er an einem Buch über die Zeit mit seinem Schlagzeuger Albert „Tootie“ Heath, und vor zwei Wochen erschien das Album „Beyond The Sky“. „Hier oben in Neuengland lebe ich sehr isoliert. Es ist so ruhig, dass ich mich selbst denken hören kann“, sagt er.

Bis heute hat Yusef Lateef über 100 Platten unter seinem Namen gemacht, allein 21 davon in den letzten acht Jahren. Die Eindrücke in Afrika sind auf der CD „Yusef Lateef in Nigeria“(YAL) dokumentiert, und seiner Heimatstadt hat er das Album „Yusef Lateef’s Detroit“ gewidmet, das auf dem 4-CD-Reissue „The Man with the Big Front Yard“ bei 32 Jazz erschienen ist. Die Bücher und CDs von Yusef Lateef können bisher allerdings leider nur direkt über seine Website www.yuseflateef.com bestellt werden. Yusef Lateef schreibt auch Auftragsstücke. Seine eigenen, bisher nicht aufgeführten Kompositionen kann man für 75 Dollar bei ihm kaufen.