: Genie, wo bist du?
Ein berühmter Literaturwissenschaftler erfindet den Menschenerfinder Shakespeare, um von ihm erfunden worden sein zu können. Das gewaltige Shakespeare-Buch des Kritikers Harold Bloom
von CHRISTIANE ZSCHIRNT
Rom. Erstes Jh. v. Chr. Caesar wird mit Lorbeer bekränzt. Cassius steht missmutig daneben. Er kommentiert ressentimentgeladen: „Caesar ist nun sogar zum Gott erhöht. Er beschreitet diese enge Welt wie ein Koloss. Und wir kleinen Leute laufen unter seinen Riesenbeinen herum.“ Caesars Größe hätte Cassius auch gern. Hat er aber nicht, und deshalb beabsichtigt er Caesars Ermordung.
Die Szene aus dem Römerdrama „Julius Caesar“ erinnert an Harold Blooms Shakespeare-Buch. Bei Bloom sähe sie so aus: Shakespeare, das Dichtergenie, ist der gottgleiche Caesar. Bloom belaubt des großen Barden Haupt. Seine Kollegen aus der Literaturwissenschaft (Bloom zufolge durchschnittlich wie Cassius) laden den Tod des gewaltigen Shakespeare auf ihr Gewissen. Denn sie haben an die Stelle einer hymnischen Ehrung des Dichters ihre dürren postmodernen Theorien vom Text, von Zeichen und Strukturen gestellt und damit die Idee vom Genie gemeuchelt.
Harold Bloom ist eine imposante Figur des amerikanischen Literaturbetriebs mit massenmedialer Wirksamkeit – eine Art amerikanischer Marcel Reich-Ranicki. Er ist Yale-Professor mit einer gigantischen Publikationsliste.
Sein Buch über Shakespeare muss im Kontext einer übergreifenden Debatte gesehen werden, in der ein humanistisches Bildungsideal auf die Postmoderne prallt. Die 1.066 Seiten umfassende Studie über den elisabethanischen Dichter ist eine Reverenz an zwei alte europäische Vorstellungen: an das Individuum und an den großen Charakter. Bloom geht in 35 Kapiteln Stück für Stück das dramatische Werk Shakespeares durch. Er will zeigen, wie Shakespeare Menschen von gewaltiger innerer Komplexität geschaffen hat.
Shakespeare habe den „menschlichen Charakter erfunden“, lautet Blooms zentrale These. Er sieht die Shakespeare’schen Charaktere als Messlatte menschlicher Perfektion. Damit bezieht Bloom Stellung gegen die postmodernen Theorien in der Literaturwissenschaft, die Shakespeares Werk als Text oder als Energiefeld der Kultur verhandeln. Blooms Position hat Tradition. Sie entstammt dem Geist des Humanismus. Dem Humanismus galt der Mensch als das Maß der Gesellschaft. Deshalb war in seiner Weltsicht die Beobachtung „des Menschlichen“ von größter Relevanz.
Die Postmoderne hat nun aber die Erkenntnis vermittelt, dass die Gesellschaft viel zu komplex geworden ist, um noch am Menschen gemessen werden zu können. In den Gesellschaftstheorien für das 21. Jahrhundert kommt der Mensch deshalb nur noch am Rande, wenn überhaupt, vor. Bloom gehört einer humanistisch geprägten Schule der englischen Shakespeare-Rezeption an. Für ihre Repräsentanten lag – sie sind seit ein- bis zweihundert Jahren tot – Shakespeares große Bedeutung in seiner Fähigkeit, außergewöhnliche Individuen zu kreieren. Daran schließt Bloom an. Er gerät ins Schwärmen, wenn er über Figuren schreibt, die ihm so vollkommen erscheinen, dass sie eigentlich schon menschenunmögliche Geschöpfe sind: Hamlet mit seiner ungeheuren Intelligenz, Falstaff, mit einem Witz so groß wie sein Bauch, oder Rosalind mit ihrer lebendigen Unbeschwertheit.
Für Bloom ist Shakespeare ein „Menschenbildner“. Auch diese Idee ist ja nicht neu. Sie hat ihre ideologische Heimat im 18. Jahrhundert. Sie entstammt dem Geniegedanken der Romantik. Shakespeare wurde in den Rang eines gottgleichen Schöpfers erhoben, der die Welt zum zweiten Mal erschuf und sie mit Musterexemplaren menschlicher Vollkommenheit und abgründigen Charaktergiganten bevölkerte. Diese Sorte Shakespeare-Verehrung bezeichnete G. B. Shaw Anfang des 20. Jahrhunderts entnervt als Götzendienst und erfand das dafür das Wort „Bardolatrie“: Idolatrie des Barden. Bloom gesteht mehr (oder weniger?) scherzhaft, dass er die Bardolatrie gern als weltliche Religion eingeführt sähe. Für ihn ist Shakespeare ein Gott, sein Werk die säkularisierte Ausgabe der Bibel und seine großen Figuren überragende Menschen von nie wieder erreichter Perfektion.
Blooms These des Charakterschöpfers Shakespeare enthält eine gewaltige Ironie. Sie läuft unfreiwillig darauf hinaus, dass Bloom zum Geschöpf des Dichters wird. Bloom schreibt aus höchstpersönlicher Perspektive. Die ganze Last der Argumentation hängt an der eigenen gelehrten Person Blooms. Er verrät Intimes über Shakespeare: „Ich glaube, dass Shakespeare dieses Stück sehr gern gehabt hat.“ Er macht einen Vorschlag zur Verbesserung des Werks: Falstaff und Rosalind hätten sich begegnen sollen. Er plaudert über Insiderwissen: „Vor einer Ménage à trois mit Goneril und Regan würde selbst Richard III. oder der schwarze Aaron zurückschrecken, aber Edmund ist es gewissermaßen natürlich, sich darauf einzulassen.“ Bloom stellt seine eigene Originalität aus. Da wird er unweigerlich selbst zum gigantischen Charakter, der uns an seinem kenntnisreichen Zwiegespräch mit Shakespeare teilnehmen lässt. Bloom erfindet (in guter alter Tradition) den Erfinder Shakespeare, um erfunden werden zu können und um als Shakespeares Erfindung Shakespeare erfinden zu können.
Denn in Wirklichkeit ist Shakespeare mindestens so sehr von „uns“ erfunden worden, wie Shakespeare „uns erfunden“ hat. Seit 400 Jahren ist seine Biografie Objekt der hemmungslosen Mythenbildung. Das, was wir als Shakespeares Dramen lesen, ist das Ergebnis der editorischen Arbeit Dutzender von Herausgebern aus vier Jahrhunderten. Und im literaturwissenschaftlichen Betrieb dient Shakespeare regelmäßig dem Testlauf neuer Theorien.
Blooms Shakespeare versammelt eine Überfülle von Beobachtungen aus Jahrzehnten seiner Shakespeare-Lehre und -Lektüre. Aber sein Buch erinnert an eine Jongleurvorführung: Da wirbelt subjektiv gefärbtes Wissen durch die Luft, wird aufgefangen, fällt zu Boden, wird wieder hochgeworfen. Man weiß, dass erwartet wird, man möge sich beeindruckt zeigen, aber insgeheim fragt man sich doch nur, was das eigentlich soll und ob es jetzt bald Kaffee gibt. Dass Shakespeare großartig ist, dass er wunderbare Wesen von unübertroffener Lebendigkeit, Intelligenz und Zeitlosigkeit geschaffen hat – wer würde das leugnen? Aber zu Beginn des 21. Jahrhundert macht es keinen Sinn, Shakespeare als eine abgehobene Instanz zu vergöttern. Shakespeare ist nicht über, sondern – im guten Sinn – unter uns: im Zitatenwortschatz des Bildungsbürgertums und in Arnold Schwarzeneggers Actionfilmen, im Theater und in der Werbung. Das beklagt Bloom. Aber wer soll seine Klage hören? Die postmoderne Gesellschaft orientiert sich nicht mehr am Menschen, seien sie Genies oder privilegierte Beobachter aus dem Wissenschaftsbetrieb. Sie interessiert sich für Medienereignisse, Theoriediskussionen und die Aktualisierung von Informationen.
Harold Bloom: „Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen“. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Berlin Verlag 2000, 1.066 Seiten, 68 DM.Von Christiane Zschirnt ist gerade erschienen: „Shakespeare-ABC“. Reclam Leipzig 2000, 256 Seiten, 19 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen