zoologie der sportlerarten: PROF. HOLGER HIRSCH-WURZ über Marathonläufer
Passionsweg zum Glück
Der Langstreckenläufer (homo ioggensis superioris) ist ein grundglücklicher Mensch. Auftrag und mystischer Leitstern ist ihm die Zahl 42,195: Marathon. Gern berichtet er von erhabenen Gefühlen beim Hechelsport, besonders danach, wenn er heroisch den toten Punkt („der schwarze Mann, der mich festhalten wollte“) überwunden resp. abgeschüttelt hat und ins Ziel getaumelt ist. „Es hat mich gelaufen“, sagen sie dann oder: „Ich bin wie mit Flügeln gelaufen“, als gehörten die Asphalttreter kurzzeitig zur Gattung der Vögel. Jedenfalls berichten alle vom Überwinden des „inneren Schweinehundes“ (porcus canem interior).
Das ist schön. Besonders wenn sie vom „Gefühl der Wiedergeburt“ reden. Oder wenn ihnen, wie es ein Kollege von mir tut, der „Passionsweg als psychische Wiedergeburt“ zugeschrieben, gar eine „spirituelle Erfahrung auf weltlichem Niveau“ angedichtet wird. Auch wenn es Ziele und Gefühle gibt auf dieser Welt, für die man nicht mehrere Monate sich vorbereitend einsame Wälder durchquert und dann drei oder vier oder fünf Stunden am Stück sich mit Zehntausenden anderer durch eine enge Asphaltwüste einer Großstadt drängeln muss, sprechen viele von ihrer Laufsucht, getragen vom Rausch der Endorphine, die durch ihren Körper tosen.
Aber wie schafft man den Absprung ins Glück? Wir kennen heute viele Wege. Erziehungshistoriker in unserem Institut verweisen, sicher nicht zu Unrecht, auf den Schulunterricht: Kaum ein Schüler, der nicht „The Loneliness of the Long-Distance Runner“ von Alan Sillitoe im Englischunterricht Mittelstufe zwangs hätte lesen müssen – und irgendwann selbst probieren wollte, wie diese Einsamkeit denn so prickelt, ob sie einhergeht mit monologisierenden Gedanken wie im Buch und wie die Loneliness tapfer zu überwinden ist. Und schon ist der Leser ein Läufer.
Anfällig sind besonders Männer jenseits ihrer biologischen Höchstleistungsgrenze. Also ab 35. „Einmal im Leben einen Marathon schaffen“, sagen sie nach Vollzug der Aufgaben Kindszeugung, Hausbau, Baumpflanzung. Laufend, glauben sie, kommt die Midlife-Crisis etwas später. Und schon sind sie unterwegs, im Ohr noch die besorgten Warnungen der Mama („Pass auf dein Herz auf“) und den Spott der längst verfetteten Freunde („Diese Quälerei, ist der blöd!“), die auch gern von morbus keuch höhnen. Später verweist der homo ioggensis XLII,CXCV auf Streckenbegleittransparente wie „Frauen lieben ausdauernde Männer“ (so zuletzt in Köln), bezieht das im Glückshormonrausch auf einen anderen Themenbereich und, schlimmer, auf sich persönlich.
Marathonläufe sind heute Volksfeste. Die großen Stadtläufe haben 30.000 Teilnehmer, weil mehr organisatorisch nicht zu leisten ist. Und ein paar hundertausend stehen an der Strecke und jubeln, ein Bier in der Hand, ebenfalls glücklich. Darüber, dass sie herumstehen dürfen und nicht laufen.
Es gibt aber auch andere Gründe zum Longdistance-Dasein. Manche sind schon qua Geburt auf die lange Strecke geschickt. Etwa alle Kenianer. Die müssen, so semiwissenschaftliche Studien medialer Ethnologen, alle schon als Kinder barfuß in die ferne Schule joggen oder zum nächsten Shop, der in Kenia immer genau XLII,CXCV Kilometer von jeder Siedlung entfernt ist. Später werden alle Kinder Profis und gewinnen zusammen mit den äthiopischen Kollegen Rennen um Rennen.
Dokumentiert ist sogar eine mundhygienische Genesis zum Marathonian: Der deutsche Kurzstreckenläufer Dieter Baumann (einst sogar 5.000-Meter-Olympiasieger). Er war eines Tages nach einem Zahnpastastreit in den Stadien nicht mehr wohlgelitten und kündigte fortan vermehrtes Laufen durch die Straßen an. Verräterisch das Alter: Baumann ist 35.
Indes darf auch der Marathonlauf nur als Vorstufe gelten. Der homo ioggensis infiniensis läuft entweder im Film (Forrest Gump) am Stück von US-Küste zu US-Küste. Oder im richtigen Leben fünf oder zehn Marathons hintereinander, nach Möglichkeit im Rahmen eines Triathlon, wo er vorher 20 – 30 Kilometer geschwommen und ein paar tausend Kilometer Rad gefahren ist. Auch geografisch gibt es keine Grenzen. Weil die Erde eine Kugel ist, kann der erste joggende Weltumrunder locker vom Doppelweltumrunder geschlagen werden. Das erlaubt eine optimistische Langzeitprognose für diese Species. Beglückenderweise.
Wissenschaftliche Mitarbeit BERND MÜLLENDERAutorenhinweis:Hirsch-Wurz, 62, ist ordentlicher Professor für Human-Zoologie am Institut für Bewegungs-Exzentrik in Göttingen.
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