DEUTSCHE ERSTVERÖFFENTLICHUNG: Staat und Individuum im Nationalsozialismus
Der Philosoph Herbert Marcuse (1898-1979), ein Vertreter der Frankfurter Schule, emigrierte 1934 in die Vereinigten Staaten. Der hier erstmals in deutscher Sprache auszugsweise dokumentierte Text „State and Individual under National Socialism“ wurde 1942 geschrieben, als Marcuse für den US-amerikanischen Nachrichtendienst arbeitete. Andere nachgelassene Schriften Marcuses, die die Situation Nazi-Deutschlands analytisch durchleuchten, finden sich in dem Buch: Herbert Marcuse, „Feindanalysen“, hg.von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg (zu Klampen) 1998.
Von HERBERT MARCUSE *
DIE Auffassung, der Nationalsozialismus habe eine Revolution bewirkt, lässt sich mittlerweile nicht mehr aufrechterhalten. Er hat, wie wir jetzt erkennen, die grundlegenden Strukturen des Produktionsprozesses nicht angetastet. Die Produktionsmittel sind auch weiterhin im Besitz und unter der Kontrolle bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, die auf die Bedürfnisse und Interessen der Gesamtgesellschaft keinerlei Rücksicht nehmen.[1]Im Zentrum der wirtschaftlichen Organisation des Dritten Reiches stehen die großen Industriegemeinschaften, die ihren Einfluss schon vor Hitlers Machtübernahme ständig erweitert haben und dabei in hohem Maße staatliche Unterstützung genossen. Ihre Schlüsselstellung in der Kriegs- und Rüstungsproduktion haben sie beibehalten. Seit 1933 arbeiten sie eng mit einer neuen „Elite“ zusammen, die den höchsten Rängen der NSDAP entstammt, ohne jedoch ihre entscheidenden gesellschaftlichen und ökonomischen Funktionen verloren zu haben.[2]
Andererseits führt der Nationalsozialismus nicht zu einer gesellschaftlichen und politischen Restauration, obwohl das NS-Regime denjenigen Kräften und Interessengruppen, die in der Weimarer Republik Machteinbußen befürchten oder gar hinnehmen mussten, weitgehend zu alter Stärke zurückverholfen hat: Die Wehrmacht ist wieder ein Staat im Staate, die innerbetriebliche Autorität des Unternehmers wurde von zahlreichen Beschränkungen befreit, die Arbeiterklasse wurde der totalitären Kontrolle des Staates unterstellt. Aber dieser Prozess hat nicht zu einer Restauration alter Herrschaftsformen und sozialer Schichtungen geführt. Der NS-Staat hat mit der Struktur des wilhelminischen Kaiserreichs kaum noch etwas gemeinsam. Die Armee, einst der Nährboden des preußischen Feudalismus und für ihren Drill berüchtigt, wurde nach stärker demokratischen Auswahlprinzipien reorganisiert, während die gesellschaftlichen Strukturen mit einem Netzwerk pseudodemokratischer Maßnahmen überzogen wurden. Unternehmer und Arbeiterschaft sind jetzt in der „Deutschen Arbeitsfront“ zusammengeschlossen. Sie marschieren Schulter an Schulter bei Demonstrationen und Paraden und unterliegen denselben Verhaltensmaßregeln. Zahlreiche Relikte der Feudalordnung – Privilegien und andere soziale Differenzierungsmerkmale – sind beseitigt worden. Am wichtigsten jedoch ist die Tatsache, dass die alteingesessene Staatsbürokratie sowie die Führungsschichten der Finanz- und Wirtschaftsunternehmen einen neuen Herren und neue Regierungsmethoden anerkannt haben. [...]
Wir wollen im folgenden die Auffassung präzisieren, dass der Nationalsozialismus die Wesensmerkmale des modernen Staates beseitigt hat. Zu diesen Merkmalen gehört die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft. Der Nationalsozialismus hat sie weitgehend aufgehoben, indem er den tatsächlich an der Macht befindlichen gesellschaftlichen Gruppen politische Funktionen übertragen hat. [...]
Der moderne Staat [...] entstand und organisierte sich außerhalb eines Bereichs unterschiedlicher sozialer Beziehungen, die als nichtpolitisch angesehen wurden und nur ihren eigenen Gesetzen und Maßstäben unterworfen waren. Dazu gehörten das Privatleben der Individuen, die Familie, die Kirche und weite Teile des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. [...] Damit erkannte der Staat die Existenz bestimmter gesellschaftlicher Rechte an, die älter waren als seine Macht. Seine Einmischung war nur insoweit gerechtfertigt und akzeptabel, als er diese Rechte schützte, förderte oder wiederherstellte. [...] Diese Trennung zwischen einer politischen und einer nichtpolitischen Sphäre hat der Nationalsozialismus beseitigt. [...]
Der Staat – eine Maschine: diese materialistische Konzeption spiegelt die Realität des Nationalsozialismus sehr viel besser wider als alle Theorien von einer rassisch verstandenen „Volksgemeinschaft“ oder einem „Führerstaat“. Diese Maschine, die das Leben der Menschen überall und jederzeit erfasst, ist umso Furcht erregender, als sie zwar mit großer Effizienz und Genauigkeit arbeitet, dabei jedoch in ihren Aktionen völlig unberechenbar und unvorhersagbar bleibt. Außer ein paar „Insidern“ weiß niemand, wann und wo sie das nächste Mal zuschlagen wird. Sie scheint dabei einer inneren Notwendigkeit zu folgen und reagiert doch flexibel und gefügig auf die geringste Veränderung in der Organisation der herrschenden Gruppen. Alle sozialen Beziehungen werden in dieses Räderwerk der Kontrolle und Expansion hineingezogen. Seiner Selbstdarstellung nach ist der NS-Staat durch die persönliche Herrschaft mächtiger Gestalten gekennzeichnet. Tatsächlich jedoch sind auch sie nur Räder in den Mechanismen des Apparats. Nicht Himmler, Göring, Ley schlagen zu und kommandieren, sondern die Gestapo, die Luftwaffe, die Arbeitsfront. Die unterschiedlichen Verwaltungsmaschinerien werden von einem bürokratischen Apparat koordiniert, der die Interessen von Industrie, Armee und Partei in sich vereinigt. Auch hier rührt die eigentliche Macht nicht von den Unternehmensführern, den Generälen und den Parteibonzen her, sondern von den großen „Industriegemeinschaften“, der Militärmaschinerie und der politischen Position. Der NS-Staat ist die Herrschaft der hypostasierten ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte.
Diese miteinander rivalisierenden Elemente streben ein gemeinsames Ziel an: die imperialistische Expansion im interkontinentalen Maßstab. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigt das Regime die größtmögliche Verausgabung von individueller Arbeitskraft, umfangreiche Reserven an Arbeitskräften sowie die geistige und körperliche Ausbildung, die erforderlich ist, um alle menschlichen und natürlichen Ressourcen in den eroberten Gebieten optimal ausbeuten zu können. Hier nun, wo das Funktionieren des Apparats im Wesentlichen von subjektiven Faktoren abhängt, findet auch die terroristische Unterdrückung ihre Grenzen. Ein expandierendes Gesellschaftssystem, das auf der vollständigen und effizienten Nutzung von Technologie und Industrie beruht, muss jene menschlichen Fähigkeiten und Antriebskräfte freisetzen, die diese Nutzung ermöglichen. Die wertvollste Macht- und Energiequelle ist das menschliche Individuum, das in dieser Funktion zum Lieblingskind des NS-Regimes wird. Dessen Sozialpolitik zielt darauf ab, „alle im Menschen schlummernden Begabungen zu entwickeln, seine Leistungsfähigkeit zu steigern, das Wesen seiner Persönlichkeit zu bereichern“[3]. [...]
Das klingt eher nach der individualistischen Philosophie aus der Ära des Hochliberalismus. Und indem der Nationalsozialismus das menschliche Individuum als Quelle der Arbeit in den Mittelpunkt rückt, zieht er aus bestimmten Grundtendenzen der individualistischen Gesellschaft die Konsequenz. Das Prinzip dieser Gesellschaft lag darin, jedem Individuum den ihm zustehenden Anteil gemäß seiner freiwilligen Leistung im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu gewähren. Dabei galt die Verfolgung der je eigenen Interessen als Leitmotiv für die Betätigung der individuellen Kräfte. Allerdings führte die zunehmende Diskrepanz zwischen Armut und Reichtum zu der Forderung, der Staat müsse das freie Spiel der ökonomischen Kräfte reglementieren. Indes unterscheidet sich die Reglementierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens im Nationalsozialismus grundlegend von den staatlichen Maßnahmen, die in demokratischen Ländern empfohlen und praktiziert werden. In Demokratien sollen reglementierende Maßnahmen die negativen Auswirkungen ökonomischer Machtkonzentration mildern, während die Kontrolle im NS-Staat gerade darauf zielt, die Konzentration zu beschleunigen und alle ihr hinderlichen Mechanismen zu beseitigen.[4]Die nationalsozialistischen Reglementierungsmaßnahmen dienen vorwiegend dem Zweck, jene Reststrukturen des Liberalismus abzubauen, die einstmals die rücksichtslose Ausübung ökonomischer Macht einschränken sollten. Sie beziehen sich auf die Institution, durch die, blind und anarchisch, die Gesamtgesellschaft sich gegen das Einzelinteresse zu behaupten suchte – auf die Institution des Marktes. Diese Maßnahmen beseitigen den durch unkontrollierten Wettbewerb entstandenen Ausschuss und die Rückständigkeit, sie bewirken die Schließung ineffizienter Betriebe und Fabriken, die nicht den höchsten Anforderungen moderner Technologie genügen. Sie unterwerfen die Rentabilität des Einzelunternehmens der vollen Nutzung des gesamten Industrieapparats, was denen, die ihn kontrollieren, zwangsläufig noch größere Profite einbringt. Dank der Interessenübereinkunft, die auf das Ziel imperialistischer Expansion gerichtet ist, könnte diese Unterordnung als Triumph des Gemeinwohls über den privaten Vorteil erscheinen, aber die Gemeinschaft, um deren Wohl es geht, basiert auf Unterdrückung und beständigem Mangel. Der NS-Staat könnte mit einem gigantischen Monopolkonzern verglichen werden, dem es gelungen ist, die interne Konkurrenz und die Arbeitermassen unter Kontrolle zu bringen, und der sich nun anschickt, den Weltmarkt zu erobern. Mit dem Dritten Reich ist diesem Weltmarkt der leistungsfähigste und rücksichtsloseste Konkurrent erwachsen.
Der NS-Staat ist nicht die Kehrseite, sondern die Vollendung des Konkurrenzindividualismus. Er lässt alle Kräfte des brutalen Eigennutzes frei, die die Demokratien zu zähmen und mit der Freiheit auszusöhnen suchten.
WIE jede Gesellschaft, die auf dem Prinzip des Besitzindividualismus beruht, operiert auch der Nationalsozialismus auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln. Dementsprechend gibt es zwei gegensätzliche Schichten: zum einen die kleine Anzahl derer, die den Produktionsprozess kontrollieren, zum anderen die breite Masse der Bevölkerung, die direkt oder indirekt von jener Oberschicht abhängt. Im Nationalsozialismus hat sich der Status des Individuums in der breiten Masse am einschneidendsten verändert. Aber auch hier stehen die Veränderungen nicht im Widerspruch zu bestimmten Tendenzen der Individualgesellschaft, sondern treiben sie eher auf die Spitze.
Der bemerkenswerteste Wandel hat sich an der breiten Basis der Gesellschaftspyramide vollzogen. Hier ist das Individuum zu einer Nummer in der „Masse“ herabgesunken. Tatsächlich ist das Dritte Reich ein „Massenstaat“, der alle individuellen Interessen und Kräfte zu einer emotionalen Menschenmasse verschmolzen hat, die durch das Regime höchst geschickt manipuliert wird.[5]Jedoch sind diese Massen nicht durch ein gemeinsames Interesse und „Bewusstsein“ vereint. Sie bestehen vielmehr aus Individuen, die ihr primitives Eigeninteresse verfolgen, das auf den reinen Selbsterhaltungstrieb reduziert ist. Dieser Trieb ist allen gemeinsam; er macht die Einheit dieser Massen aus. Aber diese Vereinigung von Individuen zu einer Masse hat die Atomisierung des Einzelnen und seine Isolierung von den Mitmenschen nicht beseitigt, sondern eher befördert [...]
Das Effizienzprinzip, das bei der Reorganisierung des Wirtschaftssektors zur Reglementierung der Industrie führte, von der die mächtigsten Unternehmen profitierten, führt auf dem Arbeitsmarkt zur totalen Mobilisierung der Arbeitskraft. Deren Verausgabung ist die einzige freie Betätigung, die den Menschen am unteren Ende der Gesellschaftspyramide noch geblieben ist. Die Arbeitskraft ist ihr wertvollster Besitz, auf dem, wie Robert Ley erklärt, die Größe und Stärke der Nation beruht. Es sei, fährt er fort, die allererste Pflicht der nationalsozialistischen Bewegung und die dringlichste Aufgabe der deutschen Unternehmen, diese Kraft zu erhalten und zu vermehren, denn ihre Existenz und Leistungsfähigkeit beruhe auf der verfügbaren Arbeitskraft und Arbeitsfähigkeit.[6]Der Nationalsozialismus hat ein ausgefeiltes System der körperlichen, moralischen und geistigen Erziehung entwickelt, das mit Hilfe hochausgebildeter wissenschaftlicher Methoden und Techniken die Arbeitseffizienz erhöhen will. Lohnstaffelungen erfolgen nach Maßgabe individuell kontrollierbarer Arbeitsleistung.[7]Psychologische und technologische Institutionen sorgen für die Erforschung geeigneter Methoden, mit deren Hilfe die Arbeit individualisiert und die negativen Auswirkungen der Mechanisierung aufgefangen werden können. Die Fabriken, Schulen, Ausbildungslager, Sportstadien, die Kultur- und Freizeiteinrichtungen sind echte Laboratorien, in denen die Arbeit einem „wissenschaftlichen Management“ unterworfen wird.
Die durchgängige Mobilisierung der Arbeitskraft des Individuums reißt die letzte Wand nieder, die es vor der Gesellschaft und dem Staat zu schützen vermochte: sie zerstört seine ganz private Freizeit. In der Ära des Liberalismus konnte sich das Individuum von der Gesellschaft durch die allgemein anerkannte Differenz zwischen Arbeit und Freizeit abgrenzen. Im Nationalsozialismus wird diese Differenz ebenso eingeebnet wie der Unterschied zwischen Gesellschaft und Staat. [...]
Damit ist eines der letzten Bollwerke gefallen, hinter denen die fortschrittlichen Elemente des Individualismus noch weiterleben konnten. [...]
ALLERDINGS musste das Individuum für diesen Verlust seiner letzten Freiräume entschädigt werden. Der Nationalsozialismus hatte zweierlei anzubieten: zum einen eine neue wirtschaftliche Sicherheit und zum anderen eine neue Freizügigkeit. Dass die imperialistische Ökonomie des Dritten Reichs für Vollbeschäftigung sorgen und damit ihren Bürgern eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit garantieren konnte, ist ein nicht zu unterschätzender Faktor. Die individuelle Freiheit der präfaschistischen Ära war für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gleichbedeutend mit ständiger sozialer Unsicherheit. Seit 1923 hatte es keine Versuche mehr gegeben, eine wirklich demokratische Gesellschaft zu etablieren. Statt dessen breiteten sich Resignation und Verzweiflung aus. Kein Wunder, dass die Freiheit nur allzu bereitwillig für ein System eingetauscht wurde, das allen deutschen Familien ein sicheres Leben versprach. Der Nationalsozialismus verwandelte das freie in das wirtschaftlich abgesicherte Subjekt, und an die Stelle des gefährlichen Ideals der Freiheit trat die Schutz versprechende Realität der sicheren Existenz.
Diese Sicherheit fesselt jedoch das Individuum an den repressivsten Staatsapparat, den die moderne Gesellschaft je gesehen hat. Der offene Terror richtet sich natürlich nur gegen die „Feinde“ des Systems, gegen die „Fremden“ innerhalb und außerhalb und gegen all jene, die nicht kooperieren können oder wollen. Aber der hinter totaler Überwachung und Reglementierung, hinter Krieg und Mangel versteckte Terror erreicht alle Menschen. Das NS-Regime kann die wirtschaftliche Sicherheit nicht so weit vorantreiben, dass sie zum Fundament der Freiheit wird, d. h. es kann den Lebensstandard nicht so erhöhen, dass die Individuen in die Lage versetzt werden, ihre Fähigkeiten in entsprechender Weise einzusetzen und ihre Bedürfnisse angemessen zu befriedigen. Eine derartige Befreiung wäre mit dem auf imperialistischer Wirtschaft beruhenden Herrschaftsprinzip unvereinbar. Dass der Nationalsozialismus die Opferbereitschaft so stark betont, ist nicht nur ideologische Rhetorik; dahinter verbirgt sich nicht nur ein propagandistisches, sondern auch ein ökonomisches Prinzip. Die Sicherheit, die der Nationalsozialismus garantiert, ist ihrem Wesen nach mit wirtschaftlichem Mangel und Unterdrückung verbunden. Die ökonomische Sicherheit allein reicht als Kompensation nicht aus (sofern sie überhaupt eine ist), sie muss durch irgendeine Form der Freiheit ergänzt werden. Diese Freiheit gestattet der Nationalsozialismus durch die Beseitigung bestimmter grundlegender gesellschaftlicher Tabus.
DIESE Beseitigung hochsanktionierter Tabus ist eines der kühnsten Vorhaben des Nationalsozialismus im Bereich der Massenbeherrschung. Denn die mit dieser Beseitigung von Tabus einhergehende Freiheit oder Freizügigkeit dient, so paradox dies auch klingen mag, der verstärkten „Gleichschaltung“ der Individuen im nationalsozialistischen System. [...]
Das NS-Regime hat den Enttäuschungen, die es seinen Anhängern bereiten musste, das gute Gewissen verschafft. Sie sind schlecht behandelt und eingeschränkt worden, mussten ihre Fähigkeiten, Bedürfnisse und Wünsche hintanstellen. Nun jedoch sind sie die Herren und können das tun, was ihre ehemaligen Herren kaum je zu tun wagten. E. R. Pope zitiert eine erhellende Passage aus dem offiziellen Programm für die berühmte orgiastische „Nacht der Amazonen“: Was zuvor sorgfältig abgeschirmt und wenigen Auserwählten hinter hohen Mauern dargeboten wurde, wird heute für uns alle zum Leben erweckt – im nächtlichen Zauber des Nymphenburger Schlossparks [...], in der spärlichen Bekleidung der Musen, in der unverhüllten Freiheit schöner Gestalten [...]. Die frohlockenden Rufe, erfüllt mit der freudigen Begeisterung des Mitmachens und Zuschauens, erklingen aus den Kehlen der deutschen Jugend von 1939 [...]“[8]
Das ist die Unterhaltung von Menschen, die in ihrem Gefängnis feiern, sich im Park ihrer ehemaligen Könige gehenlassen, vormals verbotenen Wunderdingen zuschauen und daran teilnehmen dürfen. Der Glanz, die Schönheit und die Freizügigkeit der nationalsozialistischen Festspiele bewahrt die Charakterzüge von Unterwürfigkeit und Herrschaft. Die hübschen nackten Mädchen und die farbenfrohen Landschaften der Gemälde nationalsozialistischer Künstler passen auf vollkommene Weise zu den klassizistischen Verwaltungsgebäuden und den stilistisch getrimmten Fabriken, Maschinen und Uniformen. Sie verwandeln Impulse von Protest und Rebellion in Impulse der Konformität. Sie verschmelzen zum Bild einer Ordnung, die noch die verborgensten Gefahrenzonen der individualistischen Gesellschaft ins Ebenmaß des Gleichschritts gebracht hat, und sie bewegen die Individuen dazu, eine Welt zu bejahen, der sie nur als Mittel zur Unterdrückung dienen.
Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt
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