: Schale Blicke in die Bretagne
Die Radsportszene ist bei der WM im französischen Plouay mal wieder in Unruhe: Ullrichs dicke Lippe, plötzliche Absagen, Täuschungen durch sich selbst, Dopingfälle und Marco Pantani vor Gericht
von MIRJAM FISCHER
Eines Tages biss sich der Telekom-Star Jan Ullrich bei einem Sturz im Getümmel so böse auf die Unterlippe, dass er sich bei der Rad-Weltmeisterschaft abmelden musste. Das war beim vorletzten Weltcup-Rennen Paris–Tours vergangene Woche passiert. Und hätte dort Straßen-Olympiasieger Ullrich nicht hinten im Hauptfeld gebummelt, sondern vorne Telekoms Weltcupkapitän und Spitzenreiter Erik Zabel geholfen, um wichtige Punkte zu sprinten, wäre die Lippe noch heil und wären die Teamkollegen Andreas Klöden, Kai Hundermarck und Jan Schaffrath gar nicht erst nicht auf die doofe Idee gekommen, vom Rad zu steigen, um Ullrich das Händchen zu halten, anstatt in Richtung Ziel noch einmal Land zu gewinnen. So wurde Zabel in Tours nur Elfter, verpasste den vorzeitigen Sieg vor dem Weltcupfinale am 21. Oktober, ärgerte sich grün und blau über die Ullrich-treuen Kollegen. So war das.
Oder vielleicht ein bisschen anders, wenn man nicht ganz so bösartig ist. Jedenfalls: Wer in Deutschland interessiert sich jetzt noch für die WM im bretonischen Plouay, wenn der populärste Deutsche nicht dabei ist? Alle anderen müssen am Sonntag beim Straßenrennen über 269 Kilometer auf Ullrich, den Goldmedaillengewinner von Sydney, verzichten. Am Ende wird es wieder heißen, dass ohne Ullrich der Titel sozusagen sowieso nur ein geschenkter sei. Wo doch viele wieder den Hut ziehen vor dem Weltranglistenzweiten, der sie, jetzt natürlich in WM-Hochform, vermutlich alle geschlagen hätte.
Ullrich quält sich nicht durch Sturm und Regen. Auch wenn einer der sieben anderen deutschen Profis sich nun vielleicht einen Namen macht: die Außenseiter Jens Voigt und Michael Rich. Erik Zabel, der nach der Misere von Paris–Tours zunächst beleidigt angekündigt hatte: „Da fahr ich jetzt aber auch nicht hin, zur WM“, wurde als einer der großen Favoriten des Straßenrennens am Sonntag gehandelt – und sagte gestern ab. Ein Infekt, wie es hieß.
Gleichzeitig sagte Hanka Kupfernagel ab: Sie habe keine Form. „Ich habe mich von mir selbst täuschen lassen.“ „Eine WM im Oktober“, sagt Ullrich-Manager Wolfgang Strohband, „ist Nonsens.“ Seit der internationale Radsportweltverband UCI vor fünf Jahren die WM an das Ende der Saison gelegt hatte, ist dieses Thema ein Politikum in der Szene. Seitdem streitet man sich, ob denn nun überhaupt und wenn ja, wie viel die Titelkämpfe denn noch wert seien. Seither begründen Stars wie etwa der Italiener Mario Cipollini oder der zweimalige Tour-de-France-Sieger Lance Armstrong aus Texas ihre Absagen damit, dass ihnen jetzt aber wirklich zu kalt sei, um noch so ein hartes Rennen zu fahren. Und dann endet die Glaubwürdigkeit doch wieder da, wo man vermuten muss, dass ein Ehrgeizling wie Armstrong einfach keine Lust hat auf WM, wo ihm gerade die olympische Goldmedaille verwehrt blieb, was ihn mehr als genervt hatte. Oder ob der Schweizer Alex Zülle, der sich vielleicht einfach nicht hatte weiter blamieren wollen, nach seinem 33. Platz unter 37 Startern beim Zeitfahren in Sydney. Und dann beginnt wieder die große Diskussion: So hatte der italienische Nationaltrainer Antonio Fusi den Italiener Marco Pantani offiziell deshalb wieder ausgeladen, weil der in Sydney nicht das gebracht hatte, was man von ihm erwartet hätte. In Wirklichkeit hätte der ehemalige Toursieger aber überhaupt keine Zeit gehabt, weil er heute in Forli erstmals vor Gericht erscheinen soll. Die Anklage: Sportbetrug. Doping mit EPO.
Pantani droht eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr. Der Bund Deutscher Radfahrer hat noch einmal Glück gehabt: Zwar verderben die neuen Dopingfälle des Bahnfahrers Andreas Kappes (Nandrolon) und des Ex-Telekomprofis Dirk Müller (Schwangerschaftshormon HCG) den Funktionären den ungetrübten Spaß am Auftakt der WM, aber keiner der beiden war für Plouay nominiert gewesen. Doch das Thema um den dopingverseuchten Radsport ist auch hierzulande wieder auf dem Tisch.
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