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Es geht auch ohne den Menschen

Seit 1992 ist der Val-Grande-Nationalpark Italiens „größte Wildnis“. Ein Forschungsprojekt untersucht die Folgen des menschlichen Rückzugs

von URS FITZE

„Ich war der Letzte, der sein Vieh auf der Alp Serena im Val Grande gesömmert hat. Das war 1969, und ich habe mich sehr einsam gefühlt. Da habe ich auch aufgehört.“ Wehmut liegt in der Stimme des 69-jährigen Renzo Primatesta aus Premosello Chiovenda, einem Dorf im Ossolatal auf halbem Weg zwischen Verbania am Lago Maggiore und dem Verkehrsknotenpunkt Domodossola. 1969 landeten die ersten Astronauten auf dem Mond, einer unbewohnbaren Steinwüste ohne jedes Leben. Im Val Grande zog sich der Mensch mit dem Abschied von Renzo Primatesta zurück aus einer Landschaft, die er sechs Jahrhunderte lang kultiviert hatte. Ein Rückzug aus dem Paradies war es nicht.

„Das Leben war hart im Val Grande. Wir mussten um jeden Grashalm kämpfen“, sagt die 72-jährige Giulia Pella, um sogleich von der gleichaltrigen Pierina Primatesta korrigiert zu werden, die sie halb im Scherz darauf hinweist, dass ihre Familie sich sogar einen Knecht habe leisten können. „Und ein Maultier. Ihr ward reich. Wir hingegen haben alles selbst auf die Alp geschleppt.“

Was für eine Plackerei: Vom 230 Meter hohen Premosello Chiovenda Anfang Mai für ein paar Wochen hinauf auf die 1.100 Meter hoch gelegene Alpe la Piana und dann Mitte Juni weiter zur Alpe Serena, die nur über die 1.728 Meter hoch gelegene Colma di Premosello zu erreichen ist: 600 extrem steile Höhenmeter hinauf und auf der andern Seite des Passes ebenso steil wieder 400 Höhenmeter hinunter, ganze Familien mit Sack und Pack, Milchkühen, Kälbern, Ziegen, Schweinen, Kind und Kegel.

Der Kühlschrankin der Höhle

Die Alphütten, aufgeschichtet und bedeckt mit Gneißplatten, waren ohne jeden Komfort ausgestattet, unten schlief das Vieh, oben im Heu die Menschen. Produziert wurden Käse und Butter, die im Tal ihre Abnehmer fanden. Das meiste, was zum Leben benötigt wurde, stellten die Älpler selbst her, nur zugekaufter Mais und Reis ergänzten den Speiseplan. Sogar der Hanf zur Verpackung der Butter wurde im Tal kultiviert.

Insgesamt dürften im Sommer mehrere hundert Personen auf den verschiedenen Alpen gelebt haben. Diese Subsistenzwirtschaft hat im Val Grande, das immer nur im Sommer bewohnt wurde, jahrhundertelang unverändert funktioniert und eine Verbundenheit der Menschen mit dem Tal geschaffen, die die letzten Bewohner heute noch davon schwärmen lässt: vom „Kühlschrank“ in einer Höhle unter einem Wasserfall, wo Frischprodukte gelagert wurden, vom Butterschmalz, der den ganzen Winter hindurch haltbar war, und von der „Marca Zaveri“, einer alten Schattenbuche auf halbem Weg ins Tal, „unserer Telefonzelle“, wie Pierina Primatesta erzählt. Bis hierher kamen jene, die im Tal geblieben waren, entgegen, um einmal wöchentlich die Butter in Empfang zu nehmen. „Da haben wir natürlich auch immer das Neueste ausgetauscht, gelacht und getratscht.“

In die Erinnerungen aus alten Tagen mischt sich Verklärung mit ein, und doch kehrt Renzo Primatesta jedes Jahr ein Stück weit zurück ins Val Grande: Den Sommer verbringt er mit Kühen und Ziegen auf der Voralp la Piana, schläft im Stroh und verzichtet auf moderne Annehmlichkeiten, „aus Leidenschaft“. Ein letzter Mohikaner in einer Welt, die heute aus dem Val Grande das „letzte Paradies“ macht, wie es in einem Buchtitel heißt, oder „die größte Wildnis Italiens“, wie es etwas prosaischer die Nationalparkverwaltung ausdrückt.

1992 ist das Val Grande, seit über zwei Jahrzehnten ungenutzt, zum Schutzgebiet erklärt worden. Es war eine Maßnahme, die die ehemaligen Sommerbewohner einerseits begrüßen, die sie andererseits aber auch schmerzt, weil damit die letzte Hoffnung, die uralte Tradition vielleicht einmal wieder aufnehmen zu können, geschwunden ist. „Hätte der Staat uns damals auch nur ein wenig unterstützt, wir hätten die Bewirtschaftung sicher nicht aufgegeben“, sagt Primatesta. „Stattdessen hat man uns das Land für ein Taschengeld abgekauft und jede weitere Nutzung untersagt.“ Dabei hatte noch bis in die Sechzigerjahre ein Holzunternehmen im Val Grande alles kahl geschlagen, was herauszuholen war.

Zu diesem Zweck war sogar eine Seilbahn errichtet worden, um die Stämme über die Colma di Premosello ins Ossolatal transportieren zu können. Einzig die Betonfundamente der Masten und verrostete, ins Erdreich eingewachsene Kabel erinnern noch daran. Die Natur erobert sich ihren Platz zurück. Auch die Hütten auf der Alpe Serena sind zerfallen, und nur noch ein schmaler Weg führt in engen Serpentinen hinunter von der Colma di Premosello. Das Rauschen der vielen Bergbäche untermalt das Vogelgezwitscher. Ansonsten Stille und eine imposante Landschaft, sehr steile, bewachsene Berghänge, darüber mächtige Felsstöcke, wo sich letzter Schnee hält. Aus dem nahen Lago Maggiore steigt die Feuchtigkeit ins Tal und sorgt für viel Niederschlag: 2.200 Millimeter pro Jahr werden hier gemessen. Das schafft eine üppige Vegetation, die manche Besucher an Nepal oder den amerikanischen Yosemite-Nationalpark erinnert.

Ausgesprochen zahlreich sind die Wildbestände. Nur die Steinböcke sind noch nicht zurückgekehrt ins Val Grande. Auch Wölfe und Bären fehlen. Groß ist die Zahl an Schlangen und anderen Reptilien, die nach dem Sprichwort der Talbewohner „Kommen die Vipern ins Haus, dann zieht der Mensch aus“ sich unter den Gneißplatten der einstigen Alphütten sehr wohl fühlen.

Der Agrarbiologe Franz Höchtl vom Institut für Landespflege der Universität Freiburg hat deshalb immer ein Set zum Absaugen von Schlangengift dabei, wenn er ins Val Grande aufbricht. Auch das Handy begleitet ihn – zumindest am Taleingang auf der Colma di Premosello gibt es noch Empfang. Ins Tal bricht er nur ausnahmsweise alleine auf. „Wenn hier etwas passiert, kann man nur hoffen, dass ein Wanderer vorbeikommt und einen findet.“

Die Kulturlandschaft wird zur Wildnis

Höchtl ist einer der seltenen Stammgäste im Tal. Wenn er mit einem 50 Kilo schweren Rucksack mit Bodenproben von der Alpe Serena ins Tal aufbricht, hat er mehr als nur eine Vorstellung über die Plackerei der einstigen Bewohner. Gesammelt werden sie für eine Untersuchung über deren Nährstoffgehalt. „Wir stellen in einigen Bergbächen ein ungewöhnlich hohes Algenwachstum fest, das nur von gedüngten Böden herstammen kann. Jetzt wollen wir herausfinden, wo sich diese befinden.“ Auch über 30 Jahre nach der letzten Sömmerung sind die Spuren der einstigen menschlichen Nutzung überall zu finden, nicht nur in den Bodenproben in der Umgebung der Alphütten: Lesesteinhaufen, mächtige, Schatten spendende Weidebuchen oder Köhlerplätze. Die Weide- und Heuflächen verändern sich je nach Höhenlage unterschiedlich. Schon weit fortgeschritten ist der „Sukzessionsbewuchs“ in den unteren Lagen bis etwa 1.300 Meter, wo vom Wiesland nichts mehr zu sehen ist und sich Adlerfarn, Grünerlen und Licht liebende Pflanzen wie die Vogelbeere breit gemacht haben.

Mit zunehmender Höhe entwickelt sich die Vegetation sehr langsam. Hier lässt sich noch erahnen, mit welcher Intensität der Mensch einst hier Landwirtschaft betrieben hat. Noch die steilste Wiese auf einem Felsabsatz wurde damals gemäht, eine extrem gefährliche Arbeit.

Die historische Bestandsaufnahme ist ein zentraler Punkt des von der Zürcher Bristol-Stiftung finanzierten Forschungsprojektes „Veränderung alpiner Landschaften bei Rückzug der Landnutzung am Beispiel des Val-Grande-Nationalparks und des Stronatales – Von der Kulturlandschaft zur Wildnis“. Das Stronatal wurde ins Projekt einbezogen, weil dort, anders als im Val Grande, aber genauso wie in vielen Alpentälern um den Monte Rosa, die menschliche Nutzung nicht vollständig zum Erliegen gekommen ist, wie die Biologin Susanne Lehringer erläutert. „Von ehemals 18 Alpen werden heute noch vier bewirtschaftet. Doch die differenzierte Alpbewirtschaftung von einst mit den anspruchsvollen Milchkühen ist am Zusammenbrechen.“

Spuren von Menschen sind allgegenwärtig

Die Folgen sind eine zunehmende Verwaldung, die die einst von Matten umgebenen Dörfer zu Inseln im Meer von Bäumen werden lässt. 2.000 Einwohner zählt das Tal heute noch. Die meisten arbeiten in den Industriebetrieben am Ortasee, ganz bescheiden ist auch der Tourismus im Tal. „Wir möchten diese zwei Realitäten im Val Grande und im Stronatal einander gegenüberstellen und versuchen, Perspektiven für eine künftige Entwicklung auszuarbeiten“, erklärt Franz Höchtl. Das ist in einem Land, das seinen Bergbauern praktisch keine Unterstützung zukommen lässt, nicht einfach. „Vielen mangelt es auch einfach an Selbstbewusstsein, um ihre Forderungen in Rom oder Turin zu deponieren“, sagt Susanne Lehringer.

Oder in Brüssel. Denn auch aus EU-Töpfen ließen sich Mittel gewinnen für eine Randregion wie das Valstrona. Die heutige Realität ist eine andere: Gerade hat die Telecom Italia beschlossen, die Telefonzellen im oberen Tal ersatzlos abzubauen.

Ob auch das Valstrona wie das Val Grande einst zur „Wildnis“ wird, ist offen. Doch wichtig ist dabei ein Aspekt, den Franz Höchtl im Rahmen seiner Dissertation bearbeitet: Quer durch die Menschheitsgeschichte zieht sich eine wandelnde Vorstellung von „Wildnis“. Heute ist die Begriffsdefinition umstritten, und wer im Val Grande von „Wildnis“ spricht, muss sich bewusst sein, dass er eine sich im Wandel befindende Kulturlandschaft damit meint, wo die Spuren der früheren menschlichen Beeinflussung noch überall zu sehen sind – wahrscheinlich noch in Jahrhunderten.

Eines hat Franz Höchtl im Val Grande nicht feststellen können: Die gerade in der Schweiz oft befürchtete Erosion nach Aufgabe der Bewirtschaftung gibt es nur in Ansätzen, eine unfruchtbare Steinwüste ist nirgends zu sehen. Das Val Grande kommt auch ohne den Menschen gut zurecht.

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