: Erst Russland, dann Berlin
taz-Serie Bildung und Migration (Teil 3): Russlanddeutsche Schüler galten lange Zeit als gelungenes Beispiel für Integration. Doch nun kehren sich „Russen“ und „Deutsche“ mehr und mehr den Rücken
von UWE RADA
Elena hat es geschafft. Vor fünf Jahren kam sie, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, aus Kasachstan nach Berlin. Heute spricht sie akzentfrei Deutsch und absolviert seit anderthalb Jahren eine Ausbildung als Arzthelferin. Von ihren „deutschen“ Altergenossen unterscheidet sich Elena nur noch dadurch, dass sie manchmal als „Russin“ bezeichnet wird. Oder, wenn es um ihr Verhältnis zu den „Deutschen“ geht, sich manchmal selbst eine „Russin“ nennt.
Kyrillische Schilder
Wie Kreuzberg ist auch Marzahn ein Einwanderungsbezirk. Schon an den S-Bahnhöfen finden sich kyrillische Hinweistafeln und russische Geschäfte. Im Bezirksamt liegen russische Faltblätter aus. „Es gibt sie, die senkrecht stehenden Dörfer und die langen Straßenzüge, wo man sich untereinander kennt, von wo aus man nach Kasachstan schreibt, und wo die, die nachkommen wollen, auch hinziehen möchten“, beschreibt die PDS-Abgeordnete Steffi Schulze das „russische Leben“ in Marzahn.
30.000 Russlanddeutsche kamen in den vergangenen zehn Jahren nach Berlin, dazu kommen noch einmal 60.000 Nicht-Deutschstämmige, die als Familienangehörige die ehemaligen Sowjetrepubliken verließen. Neben Reinickendorf und Hohenschönhausen ist Marzahn einer der Bezirke, in denen sich die Russlanddeutschen konzentrieren. Über 13.000 Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion leben rechts und links der Allee der Kosmonauten.
Auch Natalia Tibelius kam als Aussiedlerin nach Berlin. Heute arbeitet sie an der „Thüringer Oberschule“ als Schulsozialarbeiterin. Mit Erfolg. Jeder vierte Schüler an der Schule kommt aus Russland, Georgien oder den zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Doch 44 Prozent von ihnen verlassen die zehnklassige Gesamtschule mit einer Empfehlung für die gymnasiale Oberstufe. Möglich sei dies durch eine „programmatische Orientierung“ der Schule auf die Aussiedler. Solche Erfolge sind es, die noch immer dazu beitragen, dass die russlanddeutschen Schüler als gelungenes Beispiel für Integration gelten.
Über russlanddeutsche Migranten wird viel erzählt. „Mit Lebensweisheiten aus dem neunzehnten Jahrhundert im Gepäck“, schrieb einmal die Süddeutsche Zeitung, „katapultierten sich Kolchosbauern in die von Computern und Mikrochips beherrschte westliche Hemisphäre.“ Ähnlich stereotyp ist auch die Wahrnehmung der Aussiedlerjugendlichen. Von ihnen ist meist dann die Rede, wenn es wieder einmal zu Schlägereien mit türkischen Cliquen oder zu Auseinandersetzungen mit einheimischen Deutschen kommt.
Von ihren sprachlichen, kulturellen und schulischen Integrationsleistungen und ihren Problemen spricht dagegen kaum einer. Eine derart verzerrte Wahrnehmung könnte allerdings schon bald zu bösem Erwachen führen. Ähnlich wie die türkischen Jugendlichen bewegen sich auch die Russlanddeutschen zwischen zwei Kulturen. Und eine Abwendung von der Aufnahmegesellschaft könnte schon bald eine stärkere Orientierung an der „russischen Herkunftsidentität“ auslösen, wie sie etwa Tamara Staudt in ihrem bemerkenswerten Film „Swetlana“ thematisiert hat.
Problem: Marzahn-Nord
Marzahn-Nord gilt als Problemquartier. Hier, in den Sechs- und Elfgeschossern am äußersten Rande der Stadt, wohnt ein Großteil derer, die auf Unterstützung durch das Sozialamt angewiesen sind, darunter viele Russlanddeutsche. Seit Mitte vergangenen Jahres arbeitet hier der aus Wladiwostok stammende Alexander Reiser als einer von vier Quartiersmanagern.
Vor allem die älteren Jugendlichen seien mittlerweile eine Problemgruppe, sagt Reiser. „Die 14- bis 16-Jährigen kommen nach Deutschland, können nur Russisch und bekommen oft nicht ihren Schulabschluss anerkannt.“ Als einer der wenigen spricht Reiser auch an, was viele andere verschweigen: Drogenkonsum, Kriminalität, auseinander brechende Familien. Auch in Marzahn mit seiner für Aussiedler hohen Projektedichte beginnt die deutsch-russiche Erfolgsgeschichte zu bröckeln.
Mit seinen Warnungen hat sich Reiser in Marzahn nicht gerade beliebt gemacht. Selbst die Unterscheidung zwischen deutschstämmigen Aussiedlern und deren Familienangehörigen nehmen ihm manche übel. Dabei räumt selbst Sozialsenatorin Gabriele Schöttler (SPD) ein, dass „drei von vier aufgenommenen Personen als nichtdeutscher Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers“ nach Berlin kommen; Tendenz steigend. Gerade diese Personen aber verfügen, so Schöttler, „zum Zeitpunkt der Aufnahme regelmäßig über keine oder nur unzureichende deutsche Sprachkenntnisse“.
Für Steffi Schulze ergibt sich mittlerweile ein ganzes Bündel von Problemen. Defizite in der Sprachkompetenz und in der sozialen Situation gehörten ebenso dazu wie „eine zunehmende Zahl von Jugendlichen, die hier nicht Fuß fassen und sich verweigern“. Hinzu kämen noch „die rechten Jugendlichen, die gelegentlich durch die Wohngebiete ziehen und Parolen wie ‚Zick-zack-Russenpack‘ skandieren“.
Eduard und Olga haben noch keine direkte Konfrontation mit den Rechten in Marzahn erlebt. „Normalerweise passiert nichts“, sagt Eduard. „Nur wenn die Deutschen eine Gruppe sind und wir ganz wenige, dann kann es brenzlig werden.“ Viele russlanddeutsche Jugendliche haben sich mittlerweile angewöhnt, möglichen Konflikten aus dem Weg zu gehen, rechte Treffpunkte zu meiden oder an der Bushaltestelle kein Russisch zu sprechen.
„Viele Aussiedlerjugendliche wissen allerdings gar nicht, was es mit dem Rechtsextremismus auf sich hat“, sagt Delia Koch. Koch betreut in Marzahn-Nord unter anderem das „Kommunikationszentrum für junge Aussiedler“ in der Kölpiner Straße. Erst kürzlich hat sie eine Gesprächsrunde zum Thema Rechtsextremismus organisiert. Die Idee für ein solches Zentrum stammt allerdings nicht von Sozialarbeitern, sondern von den Jugendlichen selbst. Eine Gruppe, etwa 35 bis 40 Personen, interessierte sich für eine leer stehende Kita, nur einige Meter von den Äckern des brandenburgischen Dorfes Ahrensfelde entfernt. Seitdem ist die Kölpiner Straße Treffpunkt und Anlaufstelle für allerlei Alltagsfragen – von der Suche nach einer Lehrstelle bis zu Problemen mit der eigenen Identität.
Eduard und Olga kamen wie Elena vor fünf Jahren nach Berlin. „In der Schule habe ich sofort Freunde gefunden“, sagt Eduard, „doch heute ist das anders“. Zwar hat auch er schnell Deutsch gelernt, doch im Zweifel greift er lieber auf Russisch zurück, vor allem, wenn ihm nach einem coolen Spruch eines „Deutschen“ als „Russe“ keine ebenso coole Antwort einfällt. Kein Wunder, sagt er, dass sich auch „die Russen“ zusammenschließen, etwa in der russischen Disko Kalinka in Lichtenberg oder eben in der Kölpiner Straße. Obwohl mit deutschem Pass in Berlin empfangen, konstituieren sich die russlanddeutschen Jugendlichen mehr und mehr als ethnische Community. Vor allem in Marzahn. „Das ist der beste Bezirk in Berlin“, strahlt Eduard. Olga und Elena stimmen ihm zu.
Dass die Cliquenbildung auch Probleme mit sich bringt, ist Elena Marburg bewusst. Seit zehn Jahren im Amt, gebührt der Marzahner Migrantenbeauftragten das Verdienst, die Politiker im Bezirk schon früh auf die Situation der Russlanddeutschen aufmerksam gemacht zu haben. Noch immer begreift sie die vergleichsweise intakten Familienstrukturen, die Motivation der Eltern, ihren Kindern eine gute Schulbildung zugute kommen zu lassen, als Grundlage für den Integrationserfolg.
Aber auch Marburg weiß, dass sich einiges geändert hat. „Es gibt auch Familien, die haben Probleme, sich hier selbstständig um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.“ Gleiches gelte für viele Schüler, die ohne Abschluss „vor der Wahl stünden, entweder herumzugammeln und schnelle Jobs zu nehmen, die nicht ganz sauber sind, oder aber eines der zahlreichen Qualifikationsprogramme anzunehmen“. Auch in Marzahn werden sich Aufnahmegesellschaft und Migranten fremder. „Vielleicht“, resümiert Marburg nachdenklich, „ist die Gruppe der Russlanddeutschen in Marzahn zu schnell zu groß geworden.“
Der Berliner Senat freilich sieht keinen Handlungsbedarf: weder was das verstärkte Engagement beim Spracherwerb, noch was eine mögliche Gesetzesinitiative zur besseren Anerkennung der Schul- und Berufsabschlüsse betrifft. „Das bestehende Eingliederungssystem in Bund und Ländern“, so glaubt Sozialsenatorin Schöttler, „ist in seiner Gesamtheit ausreichend.“
Unfreiwillig in Berlin
Dem widersprechen zunehmend nicht nur Sozialarbeiter, sondern auch Pädagogen wie Gerhard Weil vom „Berliner Institut für Lehrerfortbildung“. „Die Zuwanderung hat sich geändert“, sagt Weil, „früher waren das bildungs- und erfolgsorientierte Familien, die schon lange auf den Koffern saßen.“ Das sei heute anders.
Aber auch die Betreuung durch das Aufnahmeland sei nicht mehr so intensiv wie noch vor fünf Jahren. „Damals waren die Aussiedler noch zwei Jahre im Heim und wurden rund um die Uhr mit pädagogischen und sozialarbeiterischen Angeboten versorgt. Heute dagegen bekommen sie schnell eine Wohnung und müssen sich selbst kümmern. Für viele“, so Weil, „ist das ein Problem.“
Der Experte für Lehrerfortbildung hat mittlerweile eine eigene Broschüre zu diesem Thema geschrieben, in der er die Erfahrungen von Lehrern im Unterricht mit russlanddeutschen Schülern zusammenfasst. „Die Erfolgsstory der Integration von Russlanddeutschen hat sich umgekehrt“, resümiert er. Viele Aussiedlerjugendliche würden heute von ihren Eltern regelrecht gezwungen, mit nach Deutschland zu kommen, und würden in den Schulen demonstrativ Russisch sprechen. „Inzwischen“, so Weil, „sagen viele: Ihr lehnt uns ab, und wir lehnen euch ab.“
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