: Eyes wide shut
Wolfgang Schäuble und sein nüchterner Rechenschaftsbericht über seine Zeit als CDU-Chef, „Mitten im Leben“. Das Buch enthält kein einziges Foto. Denn Bilder könnten womöglich den Blick auf die Gefühle des Menschen Wolfgang Schäuble freigeben
von JENS KÖNIG
Dieses Buch enthält nicht ein Foto. 344 Seiten Text, eng bedruckt, kleine Schrift. Eine einzige Bleiwüste. Dies sagt mehr über das Buch als der Inhalt selbst. Vor allem sagt es eine Menge über Wolfgang Schäuble.
Schäuble mag keine Fotos. Man könne mit Bildern mehr manipulieren als mit Worten, sagt er, man könne mit ihnen – obwohl sie ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit haben – die Wahrheit verzerren. Außerdem gehören Bilder zum unangenehmen Teil seiner Erfahrung als ein Politiker, der im Rollstuhl sitzt. Bilder sind für ihn eine beständige Zumutung. „Wenn Sie sich im Rollstuhl vorwärts bewegen, dann rennen die Kameraleute und Fotografen rückwärts zwei Meter vor ihnen her und fotografieren immer in den Schritt hinein“, erzählt er. „Da muss man sich dann schon manchmal sehr beherrschen.“
Kein Bild des Sturzes
Wolfgang Schäuble fürchtete sich nie davor, mit seinem Rollstuhl einmal zu stürzen. Er hatte immer nur Angst, dabei fotografiert zu werden. „Dieses Bild hätte mich dann wohl für den Rest meiner Tage verfolgt“, sagt er. In seinem Buch schildert Schäuble eine Episode, wie er auf dem Parteitag der Brandenburger CDU im Januar 1999 bei der Rollstuhlfahrt vom Podium herab zu Fall kam. Seine Sicherheitsbeamten haben jedoch schnell reagiert und das Übel in Grenzen gehalten. Von Potsdam aus flog er unmittelbar weiter zum CSU-Parteitag. Als Schäuble aus dem Flugzeug stieg, hörte er von seinem Pressesprecher sofort, dass sich die Kunde von seinem Sturz bereits bis nach München verbreitet hatte. Zum Glück gab es von dem Malheur nur Bilder, auf denen vom Sturz kaum etwas zu erkennen war.
Wolfgang Schäuble mag aber noch aus einem anderen Grund keine Fotos. Er will sich den gierigen Blicken der Öffentlichkeit entziehen. Er würde sich am liebsten unsichtbar machen. Er möchte nicht, dass man in seine Augen sehen kann. Er will, dass man sein Buch liest und dabei nur auf die Worte achtet. Worte waren schon immer seine Stärke – mit ihnen hat er überzeugt, verführt, verletzt. Aber auch abgelenkt – von seinen Augen, die den Menschen Wolfgang Schäuble verraten, weil man in ihnen seine Gefühle ablesen kann.
Und wenn Schäuble etwas noch mehr hasst als Helmut Kohl, dann ist es das öffentliche Zeigen von Gefühlen. So etwas empfände er als Schwäche. Als Brigitte Baumeister, die ehemalige Schatzmeisterin der CDU, vor einigen Wochen im Untersuchungsausschuss weinte und ihrem früheren Chef, der unmittelbar neben ihr saß, schluchzend gestand, sie hätte den ganzen Streit um die 100.000-Mark-Spende von Schreiber nicht gewollt, guckte Schäuble kühl geradeaus. Baumeisters Gefühle erreichten ihn nicht. Er wirkte, als hätte er sich in sich selbst eingeschlossen. Keiner im Saal sollte glauben, er wüsste, was Schäuble in diesem Moment empfinde.
Also hat der ehemalige Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU ein Buch geschrieben, in dem es nicht ein einziges Foto gibt. In seinen Augen könnte man sonst erkennen, dass ihn die Spendenaffäre und der Bruch mit Helmut Kohl tief verletzt haben, dass ihn beides traurig und ein bisschen wehmütig gemacht hat. Seine Worte jedoch sagen etwas anderes. Das Buch, das den braven Titel „Mitten im Leben trägt“, ist der korrekte, nüchterne Bericht Wolfgang Schäubles über seine Zeit als CDU-Chef: vom Tag der Wahlniederlage 1998 bis zu seinem Sturz im Februar 2000.
Es ist auch die Bilanz einer Affäre, die fast schon wieder in Vergessenheit zu geraten droht. Schäuble schreibt penibel über die 100.000-Mark-Spende des Waffenhändlers Karlheinz Schreiber, die er (angeblich) ordnungsgemäß abgegeben hat, und er setzt diese Spende in das richtige Verhältnis zu den zehn Millionen Schwarzmark, die Helmut Kohl von 1989 bis 1992 eingesammelt hat und von denen bis heute nicht bekannt ist, woher sie kamen und wo sie blieben. Schäuble möchte nicht nur beschreiben, dass sich Zeitgeschichte im Alltag „immer scheinbar zufällig, machmal auch ganz banal“ vollzieht. Er will vor allem Gerechtigkeit.
Rechenschaftsbericht
Das Buch ist aber keine Abrechnung mit Helmut Kohl, darauf besteht Schäuble. Das ist nicht kokett gemeint, sondern die Wahrheit. Leider, möchte man hinzufügen. Nicht, dass man etwas anderes erwarten konnte – aber ein Buch des Privatmenschen Wolfgang Schäuble über die größte Krise seines politischen Lebens hätte man lieber gelesen. Es hätte mit Sicherheit mehr über die CDU sowie über Leidenschaften und Abgründe in der Politik verraten, als der Politiker Schäuble in seinem unterkühlten Rechenschaftsbericht preisgibt. Wolfgang Schäuble ist eben ein Pflichtmensch. Sein Rücktritt als CDU-Vorsitzender hat er als einen Dienst an seiner Partei verstanden. Sein Buch versteht er ganz gewiss auch so.
Die Nüchternheit seiner Darstellung lässt sich vielleicht am besten an der Schilderung des Tages verdeutlichen, an dem das Ende der politischen Freundschaft von Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble endgültig besiegelt wurde. Es war der 18. Januar 2000. Schäuble fuhr am Morgen dieses Tages ins Büro des ehemaligen Bundeskanzlers. Zwanzig Minuten sprachen sie miteinander. Angefleht habe er Kohl, doch bitte die Namen der anonymen Spender zu nennen, berichtete Schäuble hinterher. Andere erzählten, die beiden hätten sich angebrüllt. Kohl blieb stur. Er nannte weder die Namen der Spender noch beugte er sich der Forderung des amtierenden CDU-Chefs, sein Bundestagsmandat niederzulegen. Schäuble erwiderte, dann werde er als Parteivorsitzender zurücktreten. Kohl beeindruckte das gar nicht. Er verstehe die Aufregung nicht, die ganze Sache mit den anonymen Spenden sei doch gar nicht so schlimm. Erst seine Spende, so Kohl zu seinem Rivalen, habe die Affäre zu so einer dramatischen Krise werden lassen.
Daraufhin platzte Schäuble der Kragen: „Ich habe in meinem Leben viel zu viel Zeit mit dir verbracht, und es wird keine Minute mehr geben.“ Er wendete seinen Rollstuhl und rief Kohls Sekretärin Juliane Weber zu, dass er dieses Büro nie wieder betreten werde. Das Gespräch ist bis heute das letzte der beiden ehemaligen Freunde.
Und was schreibt Schäuble über dieses private Psychodrama in seinem Buch? Eine genaue, aber emotionslose Abhandlung in indirekter Rede: Kohl sagte . . ., ich sagte . . ., daraufhin erwiderte er . . . . Schäuble schließt mit den Worten: „Mit dem Satz, dass ich wohl schon zu viel meiner knapp bemessenen Lebenszeit mit ihm verbracht hätte, beendete ich daraufhin das Gespräch. Zurück in meinem Büro, meinte ich nur lakonisch: ‚Alea jacta est`, und fuhr . . . zur Adenauer-Stiftung zu den Sitzungen der CDU-Führungsgremien.“ So schlicht kann der eigene politische Tod sein.
Die „kriminellen Machenschaften“ (Schäuble), mit denen Kohl seinen einstigen Ziehsohn zur Strecke gebracht hat, sollen Wolfgang Schäuble mehr getroffen haben als die Pistolenkugeln bei dem Attentat auf ihn vor zehn Jahren, sagen Vertraute. Der Schäuble im Buch aber zuckt nicht mal mit der Wimper. Helmut Kohl im Übrigen hat über dieses denkwürdige Treffen später einmal gesagt, dass er noch nie in seinem Leben „einen solchen Hass gespürt“ habe.
Distanz halten
Schäuble verfolgt mit seiner Emotionslosigkeit auch einen politischen Zweck. Indem er Distanz hält, glaubt er, sich zusätzliche Autorität zu verschaffen und seinem Angriff auf Helmut Kohl damit eine größere Wucht zu verleihen. Nie wieder soll der Alte, dem es nur um sich und nicht um seine Partei geht, die Strippen in der CDU ziehen dürfen! Schäuble übersieht dabei, dass er sich der Dramatik der Ereignisse nicht entziehen kann, und das macht seine persönliche Tragödie nur noch größer. Er möchte seine Verachtung gegenüber Kohl zeigen, indem er sie in seinem Buch verschweigt. Kohl aber nimmt diese Verachtung einfach nicht zur Kenntnis. Er zwingt Schäuble auf einem öffentlichen Empfang, ihm die Hand zu geben und kehrt in den Schoß der Partei zurück, als sei nichts geschehen.
Auf der anderen Seite wirkt Wolfgang Schäuble seltsam gelassen, auch in seinem Buch. Seit dem Attentat auf ihn weiß er, dass himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt im Leben oft sehr nahe beinander liegen. Man dürfe da nicht in allen Situationen nach Sinn und Gerechtigkeit fragen, meint er. Wer in die Politik gehe, müsse wissen, dass er in obersten Führungspositionen angreifbar und verletzlich sei, schreibt Schäuble in seinem Buch. Er habe diese Gesetzmäßigkeit akzeptiert, auch in der schmerzhaften Erkenntnis, viel zu sehr mit den sechzehn Jahren Helmut Kohl verbunden gewesen zu sein, um die CDU aus einer schweren Krise führen zu können. Das ist ein bemerkenswertes Eingeständnis, auch wenn es zu spät kommt.
Schäubles Souveränität ist an einigen Stellen sehr demonstrativ zur Schau gestellt. Man kauft sie ihm daher schlichtweg nicht ab. Sie wirkt wie eine Art Selbstversicherung, dass er den Politiker in sich besiegen kann, dass der querschnittsgelähmte Rollstuhlfahrer die Politik nicht unbedingt braucht. Für Schäuble geht es ja nicht nur um den Verlust irgendwelcher politischer Ämter. Nach dem Attentat 1990 hat ihn die Entscheidung, auch weiterhin Politik zu machen, vom Krankenbett geholt. Politik war für ihn damals sein Lebenssinn, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Schäuble besteht darauf, kein Opfer eines Machtkampfes mit Kohl zu sein. Die Geschichte der CDU-Affäre sei auch nicht die der Zerstörung einer menschlichen Beziehung, schreibt er und liefert dafür eine recht eigenartige Begründung: „Kohl hat seinem Verständnis von politischen Notwendigkeiten, den Erhalt eigener Macht eingeschlossen, immer den absoluten Vorrang eingeräumt.“ Und er, Schäuble, habe diesem Politikverständnis immer skeptisch gegenübergestanden. „Also“, so schlussfolgert er, „werden wir beide mit den menschlichen Aspekten der Geschichte leben können, jeder für sich.“ So einfach ist das.
Hier schützt sich einer, der zu spät erkannt hat, dass die Machtmaschine Kohl noch jeden politischen Weggefährten für sich benutzte und dann überrollte. Auch ihn, den stets loyalen Kronprinzen, ohne den Kohl nicht sechzehn Jahre lang Kanzler geblieben wäre.
Aber wenn Schäuble so genau weiß, wie brutal sein früherer Chef ist, warum hat er dann geglaubt, sich im Machtkampf mit Kohl die verhängnisvolle Lüge mit der Schreiber-Spende erlauben zu können? Warum hat er im Bundestag überhaupt gelogen? Schäuble kann es nicht erklären, vielleicht will er es auch nicht. Das bleibt – neben der Frage, ob er wirklich erst 1999 von den Schwarzkonten der CDU erfuhr – das größte Rätsel des Buches. Jetzt möchte man gern in Schäubles Augen sehen können.
Wolfgang Schäuble: „Mitten im Leben“. Bertelsmann-Verlag. 344 Seiten, 42 DM
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