Segensreicher Kommunismus

■ Im weltgrößten Rathaus zur Gemeinde Stuhr ist der weltgrößte Kugelschreiber in der inzwischen weltgrößten Kugelschreibersammlung in Originalweltgröße zu sehen

Der Kommunismus hatte auch seine guten Seiten. Ohne den aufrechten und daher vom ungarischen Stalinismus nach Argentinien vertriebenen Kommunisten Lázlo Jozef Biró zum Beispiel würden wir alle vermutlich noch heute auf der Schiefertafel rumritzen. Denn Biró war es, der 1938 der Welt den Kugelschreiber schenkte – eben jenes Wundergerät, mit dem sich so unnachahmlich blaue Flecken ins frisch gewaschene weiße Hemd machen lassen und ohne das kaum ein Journalist je eine Pressekonferenz überstehen könnte, weil nur das ständig klickende Auf und Ab der Kuli-Minen den gleitenden Übergang in die Tiefschlafphase verhindert.

Doch o weh, hätte der Freund aller Menschen Biró gewusst, welch Auswüchse eine an sich so segensreiche Gabe wie der Kugelschreiber verursachen kann, womöglich hätte er sich gewünscht, auch diese Erfindung hätte das Schicksal der anderen Erfindungen des Erfinders Biró geteilt. Denn wer spricht heute noch von Birós handbetriebener Waschmaschine oder seinen hitzebeständigen Kacheln?

Der Kugelschreiber aber war den Menschen Inspiration. Es gibt Schnullerkulis, Spritzenkulis und Pimmelkulis, es gibt Kulis, die auch als Radio, Spardose, Geduldsspiel, Stempel, Massagegerät, Armreif und zum Erschießen der Ehefrau zu verwenden sind. Manche Kulis sehen aus wie abgehackte Finger, in anderen fahren kleine Bötchen herum. Und auch die Sex-Shops haben sich in den 70er Jahren der Biro'schen Erfindung angenommen und Kugelschreiber vertrieben, auf denen sich junge Menschen je nach Kulistellung aus- oder anziehen.

Schlimmer noch als die Kugelschreibermotiverfinder hat Birós Geistesblitz aber die Kugelschreibersammler getroffen. Denn die hecheln seither dem aussichtslosen Unterfangen hinterher, noch von der entlegensten Kuli-Mutation ein Exemplar für ihre Sammlung zu ergattern. Eine Bedauernswerte aus Dinslaken teilt ihre Wohnung mit 200.000 Kugelschreibern, was ihr neben akuter Platznot bei der letzten Weltmeisterschaft der Kugelschreibersammler außerdem noch den Titel eingebracht hat.

Den größten aber hat sie nicht. Den weltgrößten Kugelschreiber besitzt Hans-Georg Schriever-Abeln aus Stuhr. Im nicht wirklich handlichen Baumstammformat und mit einer Länge von 15,60 Meter ist der Koloss nun zweifellos das Prunkstück der Schriever-Abeln'schen Kollektion. Schreiben kann man mit dem Monstrum auch. Vorausgesetzt, der Kranfahrer Gerhard Meyer hat mal wieder Zeit und hieft den Kuli in luftige Höhen, damit, wie jüngst in Stuhr geschehen, der stolze Bürgermeister Huntemann auf einem eigens bereitgelegten Stück Papier unter Beweis stellen kann, dass er seinen Namen so schreiben kann, dass er von der Unterschrift eines Analphabeten nicht mehr zu unterscheiden ist.

Zweifellos ein spektakulärer, Guiness-Buch-verdächtiger Auftakt einer Kuli-Show, die in die Annalen eingehen wird. Denn im Stuhrer Rathaus hat der inzwischen pensionierte Ex-Karstadt-Schaufensterdekorateur Schriever-Abeln auf 65 Ausstellungstafeln und in neun Vitrinen vom Anti-Raucher- bis zum zwei Zentimeter kleinen Ohrringstecker-Kuli über 5.000 Skurrilitäten ausgebreitet – womit er (an Superlativen ist in der Europagemeinde Stuhr zurzeit wahrlich kein Mangel) die wohl größte Kuliausstellung der Menschheitsgeschichte auf die Beine gestellt hat. 18 Jahre seines Lebens hat der frührere Orden-, Briefmarken-, Münzen- und Aufklebersammler und seine ebenfalls kulisammelinfizierte Kleinfamilie damit verbracht, die exotischen Kugelschreiber zusammenzutragen. Knapp 60.000 nennt der 68-Jähige inzwischen sein Eigen, im Rathaus ist also nur ein winziger Ausschnitt dieses tragischen Lebenswandels zu sehen.

1992 gründete Schriever-Abeln eine als „Club der Kugelschreibersammler in Deutschland“ getarnte Selbsthilfegruppe für Kuli-Junkies. 101 Bekennende aus Deutschland und dem nahen europäischen Ausland haben sich dort zusammengefunden, um zweimal jährlich ihre Probleme zu erörtern und sich über die raffiniertesten Wege zur Beschaffung ihres Stoffes auszutauschen. Was Schriever-Abeln jetzt noch fehlt, ist ein Kugelschreiber-Museum in Stuhr, um das Lebenswerk des 1985 verstorbenen Lázlo Jozef Biró zu ehren. Womit am Ende der Kommunismus in einem kleinen Bremer Vorort doch noch einen stillen Triumph feiern könnte. Franco Zotta

Die Ausstellung „Kugelschreiber – Kunst und Kitsch“ ist noch bis zum 22. Oktober im Rathaus Stuhr zu sehen. Öffnungszeiten: Mo-Mi 8-16 Uhr, Do 8-18 Uhr, Fr. 8-12 Uhr. Infos: Tel.: 56 95 0; www. Stuhr.de