: Der Kampf um das werberelevante Zielpublikum

Auf der Jugendmesse

Die Jugendmesse „You“ fand zum ersten Mal 1996 in der Dortmunder Westfalenhalle statt. Seit letztem Jahr findet die „größte Jugendmesse Europas“ auch in Berlin statt. Die Stadt ist zugeklebt mit Graffiti-inspirierten Plakaten, die drei Tage „outfitsportlifestyle“ auf dem Messegelände am Funkturm ankündigen. „Ein voll fettes Programm für alle 14- bis 25-Jährigen“, sagt Thomas Arabin, Projektleiter der Messeteams.

Kooperationspartner der „You“, erfährt man in im Presseinfo, ist die Redaktion des „Duden Wörterbuch der Szenesprachen“. Mit Adjektiven wie „cool“ und „ganz schön schrill“ wirbt die „You“, um – wie es früher bei den Gewerkschaften hieß – „die Leute da abzuholen, wo sie stehen“. Und obwohl es eigentlich immer blamabel klingt, wenn eine Gruppe großer Firmen die vermutete Sprache der Jugend benutzt, verkündet der Presserefent der „You“ gut gelaunt steigende Besucherzahlen. 100.000 Teenager sollen kommen.

Immerhin kann man auf der „You“ viele Kondome und Kugelschreiber einsammeln. Das finden die auf der Messe herumlaufenden Schulklassen und Freundeskreise gut. Türkische Jungs verfolgen in einem vom Berliner Energieversorger Bewag aufgestellten Autoscooter ihre Freundinnen. In einer Sandlandschaft von Milka kann man zwischen überdimensionierten Schokoriegeln BMX-Rad fahren. Der „Nivea Beauty-Bus“ liefert Diskoschminke. Auch sonst machen die Teenager hier alles, was Eltern missbilligen: Chips essen, Cola trinken und von Technomusik taub werden. Bereitwillig nehmen sie an Gewinnspielen teil und schreiben ihre Adressen auf immer neue Postkarten.

Trotzdem tun einem die Jugendlichen Leid. In den halbdunklen Messehallen ist es ungemütlich. Dauernd bekommt man irgendeinen Funsportart-Ball auf den Kopf gedopst, und die Firma Maggi verschenkt Becher mit Ravioli direkt aus der Dose: „Kult auch kalt!“ Und der Auftritt der Miss Italia 2000 auf der Bühne der Modefirma Sash verzögert sich.

Eigentlich soll es auf der „You“ auch um Ausbildung gehen. Nach Gewerkschaftsangaben suchen 34.000 Menschen in Berlin einen Ausbildungsplatz. An den Internetbildschirmen des Arbeitsamtstandes findet man allerdings nur zwei Polizisten, und unter dem Schild „Studieren in Sachsen-Anhalt lohnt sich“ sitzt eine einsame Frau und lächelt traurig.

„Wir sammeln hier genau unser werberelevantes Zielpublikum ein“, freut sich ein junger Mann, der Eintrittskarten für die Nachmittagstalkshow „Vera am Mittag“ verteilt. Jenseits der Jugendmesse ist dieses Zielpublikum in Berlin weniger gern gesehen, eine Tatsache, die auch Soziologen interessiert. Inzwischen befassen sich gleich mehrere Studien mit dem Phänomen der so genannten Berliner „Center-Kids“. Das sind die Teenager, die in bis zu 100-köpfigen Gruppen in Einkaufszentren herumhängen und rauchen. Außer Chipstüten und Bierdosen kaufen sie wenig ein. Stattdessen berichteten Zeitungen neulich von einer Schießerei Jugendlicher auf dem Dach einer Shoppingmall im Bezirk Neukölln. Alltäglicher sind Schlachten mit dem Sicherheitspersonal des Einkaufszentrums.

Das Centermanagement setzt auf die Vertreibung der Jugendlichen, weil man fürchtet, dass „die Jungs alles vollspucken“ oder andere Kunden sich belästigt fühlen. Sitzbänke in Einkaufspassagen werden abgeschraubt. Immerhin bringen die „Center-Kids“ einige Streetworker wieder in Lohn und Brot. Der Sozialarbeiter Thorsten Mann fand heraus: „Für 20 Prozent der Jugendlichen sind Warenhäuser und Einkaufszentren Freizeitstätte Nummer eins.“ Der Sozialarbeiter Stefan Schützler registriert in seiner Untersuchung „die Mutation des gewöhnlichen Ladendiebstahls zum Massenphänomen jugendlicher Freizeitgestaltung“.

Zugleich gibt es auch beim geordneten Konsum Probleme. Hier beklagen sich die Berliner Schuldnerberatungsstellen. Immer mehr Jugendliche befänden sich unter ihrer Klientel, sagen sie. Die Teenager verschulden sich wegen ihrer Funktelefone. Monatliche Rechnungen über 200 Mark weisen den direkten Weg in die Dispokredit-Falle.

Auch Berlins Kreditrahmen ist ausgeschöpft: Die Gesamtverschuldung der Stadt beläuft sich auf 65,4 Milliarden Mark. Darum entdecken die Politiker seit einigen Jahren die Jugendlichen, die letzte Hoffnung der Stadt. Jugendmessen und die Love Parade sollen für ein vermarktungsfähiges jugendliches Image sorgen.

Doch das Bild der jungen Hauptstadt gründet sich auf eine Fiktion. Berlin wird schleichend älter. Der Anteil der Kinder im Alter von unter 15 Jahren ist nach Angaben des Statistischen Landesamtes von 15,9 Prozent im Jahr 1990 auf 13,8 Prozent zurückgegangen. Im vergangenen Jahr lag das Durchschnittsalter in Berlin bei 40,8 Jahren. 1990 betrug es noch 39,1 Jahre. KIRSTEN KÜPPERS