„Lilienverschönerer“

Gore Vidal polemisiert eitel und brillant über das Washingtoner Establishment, seinen Vetter Al Gore und die Macht der Konzerne

von Claus Leggewie

Es gibt immer jemanden in der Familie, der über einen herzieht, wenn man Bundeskanzler geworden ist – oder Präsident der Vereinigten Staaten. Bei Al Gore wird das (im Fall des Falles) Gore Vidal sein, ein berüchtigter Radikaler, bekennender Atheist und unverhohlener Homosexueller. Schon mehrfach in den letzten Jahren hat sich dieses Lästermaul über den Vizepräsidenten lustig gemacht.

1998 verspottete er ihn als „Lilienverschönerer“, dessen Lebenslauf „wundersam tugendhaft, wenn auch ein wenig knapp an tatsächlich Geleistetem“ sei, allein seinen notorischen Mangel an Spontaneität habe er sich hart erarbeitet.

Gores plakatives Umweltbewusstsein hält der Verwandte Gore Vidal bestenfalls für einen Gemeinplatz, an dessen politische Umsetzung nicht im Entferntesten zu denken sei. Zudem habe sich der aktuelle Präsidentschaftskandidat Gore seinerzeit im Vietnam-Krieg (als Etappenschwein in der Pressebrigade) ebenso gedrückt, wie er sich später von Daddy’s Tabakindustrie habe großzügig sponsern lassen.

Mit Bill Clinton habe er dann 1996 eine Reihe „protofaschistischer Programme“ aufgelegt, die nicht nur den berüchtigten „Unabomber“, den Intellektuellen unter den amerikanischen Terroristen, zur Weißglut gebracht haben.

Auch wenn Gore Vidal den Vetter aus Tennessee im Zweifel lieber im Weißen Haus sähe als den unsäglichen Konkurrenten aus Texas, geriert er sich streckenweise selbst als geistiger Unabomber. Seine Vor- und Werturteile haben sich gewaschen, Thesen und Vorschläge sind oft reichlich verstiegen.

Bisweilen brillant geschrieben, sind sie stets eitel und verschwätzt, genau wie Vidals Serie historischer Romane, dessen jüngster („The Golden Age“) in den USA in diesem Herbst erschienen ist.

Die Essays aus den Jahren 1971 bis 1998, die jetzt in „Das ist nicht Amerika! auf Deutsch erscheinen, sollen den 75-jährigen, in Deutschland bislang wenig gelesenen Autor bekannt machen – und damit auch eine freche Schreibe einbürgern, in welcher auch der unverkennbar hingerissene Herausgeber Willi Winkler eine gewisse Meisterschaft hat. Da sein Idol Hunderte von Gelegenheitsarbeiten verfasst hat, legt er hier keinen repräsentativen Vidal-Reader vor (wie es etwa in den USA die 1993 bei Random House erschienene Anthologie „United States“ gewesen ist), aber insgesamt bildet die Auswahl Schwerpunkte und Machart des essayistischen Werkes anschaulich ab.

Kaum zufällig beginnt der Band mit dem, was Gore Vidal am meisten interessiert: mit ihm selbst und seinem Clan. Dazu zählen weitläufig auch die Kennedys und natürlich die Clintons. Vidal hat sich Anfang der Sechzigerjahre bemüht, als demokratischer Kandidat ins politische Geschäft zu kommen. Und seit er mit diesem politischen Selbstversuch gescheitert ist, setzt es Rundumschläge gegen das Washingtoner Establishment und vor allem gegen die „unsichtbare Regierung“ der großen Kapitalgruppen.

Publiziert hat der halbe Insider sie unter anderem in „The Nation“, einem der wenigen linken Oppositionsblätter der USA, deren Unordnung laut Vidal ökonomisch und innenpolitisch dermaßen eklatant ist, dass sie kaum „über irgendetwas anderes als sich selbst Hegemonie ausüben“ dürften.

Eingefleischte Kritiker der USA werden natürlich mit prächtigen Zitaten fündig: „Gesellschaft, die langsam vor die Hunde geht“ oder „Hauch von Weimar“, aber man täusche sich nicht: Vidal, der als Ehrenbürger im italienischen Ravello lebt und damit die meiste Zeit außer Landes verbringt, steht in der populistischen Tradition, zu welcher nicht nur heftige Nestbeschmutzer zählen, sondern auch die größten Patrioten seines Landes.

In diesem Zusammenhang ist sein Plädoyer für „Devolution“ zu lesen, für den Rückbau jeder Machtzusammenballung in Washington oder Hollywood, auch die Abneigung gegen imperiale Anwandlungen der Vereinigten Staaten und alle Arten von Freiheitsberaubung und Bigotterie, die beides unweigerlich nachzog. Dabei gerät Vidal ins Träumen und in den wohlig registrierten Verdacht, Kommunist zu sein: „Was können wir tun? Die Konzerne zerschlagen. Das wäre ein Anfang. Und dann – warum nicht gleich aufs Ganze gehen – vielleicht eine freie Presse, eine parlamentarische Regierung und . . . Sie wissen schon, was ich meine.“

Das hätte vielleicht etwas genauer ausgeführt werden müssen, etwa für Wähler des „unsäglichen“ Ross Perot oder das durch den Oklahama-Attentäter Timothy McVeigh vertretene Häuflein christlich-arischer Fundamentalisten, dem Vidal hier eine beinahe emphatische Würdigung zukommen lässt.

Eindeutiger sind Vidals Essays über Sex, listig sein Plädoyer für Schwule: Weil es die Heteros mit der Reproduktion ein wenig übertrieben hätten, sei nun jede Binnenaktivität der „Spritzer“ und „Bespritzten“ (sic!) eindeutig zu unterstützen. Die heterosexuelle Rollenverteilung, schrieb Vidal schon 1971 in Verteidigung der Feministinnen hoffnungsfroh, sei „nicht mehr die einzige Möglichkeit, die einer rastlosen neuen Generation offen steht“.

Vidals Essays sind „grundgelehrt, bewusst einseitig und immer unterhaltsam“ (Winkler). Ob man, wie der Herausgeber meint, den Mann einfach gern haben muss, bleibe Lesern überlassen, die mehr Sinn für Egozentrik haben als ich und sich an Pauschalurteilen delektieren mögen. Wertschätzen kann man die Aufsätze wohl überhaupt nur, wenn man ihren Autor schätzt, der in seinen literarischen Kritiken kräftig und ganz nach Belieben holzt:

John Updike, der „Kleinstadt-Philoktet“, schreibe eine „Prosa, die Menschen mögen, die von Stil nichts verstehen“, zitiert Vidal seinen Kollegen Norman Mailer, der dann selbst nicht besser wegkommt – seine Gedanken über Sex läsen sich „wie drei Tage Blutfluss“. Vidal, findet Vidal offenbar, hätte, wenn schon nicht das Weiße Haus, so doch den Nobelpreis für Literatur verdient. Der Rest der US-Autoren habe ohnehin von ihm abgeschrieben, so wie Politiker seine Reden hielten und, ohne Quellenangabe, seine Ideen plünderten. Die wenigen, die er mag (wie Tennessee Williams und Christoph Isherwood), verehrt er dann ebenso inbrünstig wie er den Rest des mediokren Gewimmels verabscheut.

Willi Winkler hat zu dem Essayband ein kurzes Nachwort und ein laues Fan-Interview beigesteuert und sich im übrigen nicht allzu viel Mühe gegeben. Einige hierzulande wohl kaum bekannte Namen und Vorgänge hätte der deutsche Leser doch gern erklärt bekommen, und Vidals Oxford Amnesty Lecture stammt sicher nicht aus dem Jahr 1955. Doch im Grunde passt dieser Umgang mit dem Band zweifelos zu Vidals Temperament und Texten.

Gore Vidal: „Das ist nicht Amerika! Essays.“ Ausgewählt und herausgegeben von Willi Winkler, Albrecht Knaus Verlag, München 2000, 319 S., 42 DM