: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich
Die Freiheit des Wortes verschlug den alten Dichtern die Sprache. Die jungen zuckten mit den Achseln – und die polnische Literatur nach der Wende war stumm. Erst die Aufgabe der Opferidentität und die Entdeckung der eigenen Nachbarn hat das literarische Leben in Polen wieder zum Pulsieren gebracht
von GABRIELE LESSER
„Unglücklicherweise gibt es in Polen keine Zensur mehr“, witzelte Zbigniew Herbert, der Autor des auch in Deutschland bekannten „Herrn Cogito“ 1990. Sein Scherz hat einen ernsten Kern: Zwar sehnte sich Herbert auch vor zehn Jahren nicht zur Zensur zurück, aber er wusste auch noch nicht, wie er nun weiterschreiben sollte: „Unglücklicherweise – weil ich meinen ganzen Stil darauf ausgerichtet hatte, die Zensur zu überlisten. Damals habe ich ernste, tragische Gedichte geschrieben, heute schreibe ich über meinen Körper, über Krankheiten . . .“
Nicht nur Zbigniew Herbert fiel nach der Wende in eine Schaffenskrise. Auch für die meisten anderen Dichter und Schriftsteller Polens begann eine „Zeit der Verlorenheit“. Plötzlich konnten sie schreiben, was sie wollten und wie sie wollten. Der Zensor, über Jahrzehnte die erste Instanz der Kritik, hatte nichts mehr zu sagen.
Doch die Freiheit des Wortes verschlug den Dichtern zunächst die Sprache. Die eingesessenen Schriftsteller spürten, dass sie bei den Lesern die Autorität des Wegweisenden verloren. Dafür merkten die Nachwuchsautoren, dass die Leser von ihnen die „neue Literatur“ erwarteten. Der enorme Erwartungsdruck, einen großen Nachwenderoman vorzulegen, lähmte zunächst auch die Jungen – wenngleich ihre Haltung zur Zensur eine andere war. Marcin Swietlicki, einer der Vorreiter der neuen Dichtergeneration, sprach ihr aus der Seele: „Ich schaue in das Auge des Drachen / und zucke mit den Achseln.“
Ratlosigkeit herrschte Anfang der Neunzigerjahre auch bei den Verlagen. Von einem Tag auf den anderen fielen die Subventionen aus der Staatskasse weg. Der noch völlig unbekannte Markt entschied plötzlich über Erfolg oder Misserfolg eines Buches, über Wohl und Weh eines Verlages. Die kleinen Verlage, die seit 1976 Autoren im so genannten Zweiten Umlauf publizierten, im Untergrund an der Zensur vorbei, waren oft nicht kapitalkräftig genug und verschwanden in der Bedeutungslosigkeit. Stattdessen kam amerikanische Massenliteratur in die Buchhandlungen. Das intellektuelle Polen war entsetzt: Ein Jahr nach der Wende in Polen schien die polnische Literatur am Ende zu sein. Dichter und Schriftsteller blieben stumm.
Heute, zehn Jahre später, pulsiert das literarische Leben Polens wie kaum je zuvor. Doch die neue Literaturszene sieht ganz anders aus als erwartet: Statt sich am Wenderoman zu versuchen, entdeckten die Schriftsteller in ihrer unmittelbaren Umgebung eine bislang verschüttete Welt und deren Geschichte. Das literarische Leben Polens dezentralisiert sich, allein schon von den Publikationsorten her.
Als 1991 in Olsztyn/Allenstein die Kulturzeitschrift Borussia entsteht, die innerhalb weniger Jahre zu einem der wichtigsten Diskussionsforen der jungen polnischen Intelligenz wird, leitet dies das Aufblühen einer völlig neuen Kulturlandschaft in der so genannten Provinz ein – weitab von den bisherigen Kulturmetropolen Warschau und Krakau. Wenig später gründet der auch im deutschen Sprachraum bekannte Schriftsteller Leszek Szaruga („Eiszeit, Steinzeit“) in Szczecin/Stettin die Zeitschrift Pogranicza (Grenzräume), weiter im Osten des Landes, schon an der Grenze zu Litauen, entsteht in Sejny die Zeitschrift Krasnogroda, im südpolnischen Lublin Kresy, in Krakau bruLion (Schmierheft), die sich zu einer der bedeutendsten Literaturzeitschriften Polens entwickelt, und im westpolnischen Poznan/Posen Czas Kultury (Zeit der Kultur), die vor allem postmodern orientierten Autoren ein Forum bietet.
Opferidentität überholt
Der Zusammenbruch des alten Systems erschütterte nachhaltig das eigene Selbstverständnis. Über Jahrhunderte hatte das romantische Bild Polens als „Christus der Nationen“ den Polen Kraft gegeben, die Zeit der Teilungen, die deutsche und sowjetische Okkupation und schließlich auch das dem Land 1945 aufgezwungene Regime zu überdauern. Doch nun hatte die alte Opferidentität keine Grundlage mehr.
Die spannendsten und schönsten Gedichte, Erzählungen und Romane der letzten zehn Jahre haben alle ein Thema: Die Rückbesinnung auf das eigene Ich im „kleinen Vaterland“, der „Heimat“, wie man im Deutschen sagen würde. Die großen Themen finden die Schriftsteller beim Nachbarn. Es sind dies die historischen Juden, die einst in ganz Polen lebten, die Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Ukrainer, die nach dem Krieg zwangsumgesiedelt wurden und heute vor allem in Masuren und im Ermland leben, schließlich die eigenen Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten Polens.
Die Wiederentdeckung dieser Nachbarn hat für Polen etwas Verstörendes an sich, da sich plötzlich zeigt, dass auch die Nachbarn Opfer waren, ermordet und vertrieben wurden, dass auch sie gelitten haben – oft auch unter den Polen. Anfang der Neunzigerjahre löst die Debatte über das Gedicht des Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz „Armer Christ sieht das Ghetto“ eine intensive Beschäftigung vieler Schriftsteller mit dem Holocaust und der Haltung der christlichen Polen zu den Juden im Zweiten Weltkrieg aus. Auch Andrzej Szczypiorskis in Polen zunächst nicht beachteter Roman „Die schöne Frau Seidenman“ wird nun gelesen. Klassiker wie Isaak und Israel Singer werden neu aufgelegt, und Hanna Krall, die bereits 1977 die viel gerühmte literarische Reportage „Dem Herrgott zuvorgekommen“ über Marek Edelmann, einen der Anführer des Warschauer Ghettoaufstandes, veröffentlicht hatte, verlegt sich nun ausschließlich auf diese Thematik. Alle ihre Kurzgeschichten werden auch in Deutschland publiziert.
Ähnlich wie Henryk Grynberg ist Krall der Ansicht, dass der Holocaust kein Stoff für einen Unterhaltungsroman abgeben sollte. Beide Autoren schreiben daher heute Erzählungen, die – wie Krall es einmal ausdrückte – nur mehr „die Knochen“ der Geschichte bloßlegen. Dies gilt auch für Grynbergs neuesten Erzählband „Galizische Erinnerungen“. Ganz anders Wilhelm Dichter, der mit seinem späten literarischen Debüt „Das Pferd Gittes“ 1996 in Polen für großes Aufsehen sorgte. Erst mit sechzig Jahren entschloss sich der in der Nähe von Boston lebende Computerspezialist, einen Roman in Ich-Form zu schreiben. Mit dem staunenden Blick des kleinen „Wilek“, der von den Erwachsenen liebevoll „Pferd Gottes“ –dummer Esel – genannt wird, erleben die Leser den Einmarsch der Roten Armee im galizischen Boryslaw mit, schließlich die Deutschen, die Pogrome, den Frieden und den schwierigen Neuanfang. Mit seinem neuesten Roman – „Rosenthals Vermächtnis“ – führt Dichter die Geschichte fort. Der inzwischen halbwüchsige Junge lebt nun in Warschau und lässt sich vom Kommunismus faszinieren, von dem er annimmt, dass er anders als der Nationalsozialismus die Menschen tatsächlich in eine friedliche Zukunft führen wird. Dieser Glaube wird enttäuscht. Dichter selbst hat Polen während der antisemitischen Kampagne 1967/68 verlassen müssen.
Verlust der Heimat
Der Krieg spielt auch eine große Rolle im Schaffen des Danziger Schriftstellers Stefan Chwin. In seinem Roman „Tod in Danzig“ ist es ein Danziger Deutscher, der, vereinsamt nach dem Tod seiner Frau 1945, nicht vor der Roten Armee flieht und auch später das nun polnische und stalinistische Gdansk nicht verlassen will. Erst als er den Selbstmord einer Nachbarin verhindert und sich um den stummen Jungen zu kümmern beginnt, der im Hause aufgenommen wurde, kehrt sein Lebenswille zurück. Diesmal stellt er sich dem kommenden Unheil entgegen. Als die Verhaftung droht, flieht er mit der Frau und dem Kind. Chwins Romandebüt wurde 1995 in Polen zum „Buch des Jahres“ gekürt.
In diesem Jahr legt der Danziger Literaturprofessor mit „Die Gouvernante“ einen Fin-de-siécle-Roman vor, der in Warschau spielt. Fräulein Ester Simmel, ein bezauberndes Wesen, stammt aus Danzig, hat aber in Wien Philosophie studiert und soll nun dem jüngeren Sohn der großbürgerlichen Celinskis Privatunterricht geben. Doch Esther befällt eine geheimnisvolle Krankheit, die diejenigen, die sich um sie sorgen, ins Verderben reißt. Rings um die einst glückliche Familie machen sich Niedertracht, Verfall, Intoleranz und Gewalt immer aufdringlicher bemerkbar. Es sind die Vorboten des herannahenden Ersten Weltkrieges, der dem friedlich-kultivierten Umgang der wohlhabenden Polen, Juden, Russen und Deutschen in der Stadt ein Ende machen wird.
Wieder ist es die Kindheit, die in den Romanen der „Repatrianten“ aus den alten Ostgebieten Polens aufscheint und die Sehnsucht nach einer Geborgenheit ausdrückt, die unwiderruflich zerstört wurde. Einer der ersten Dichter, der den Verlust der Heimat bereits 1955 beschrieb – allerdings im Pariser Exil – war der spätere Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz. Im Roman „Tal der Issa“ wirkt die alte Heimat im heutigen Litauen wie ein fernes Arkadien des harmonischen Zusammenlebens von Polen, Litauern, Juden und Russen.
Jüngere Autoren haben später versucht, diese Sehnsucht nach der entschwundenen Heimat mit einem „das Leben ist überall“ zu überwinden. Jerzy Pilch, der im letzten Jahr mit dem Roman „Andere Lüste“ Furore machte, schreibt sich die Sehnsucht nach der alten Heimat in der Nostalgiegroteske „Tausend stille Städte“ von der Seele. Nur Slawomir Mrozek, der dreiunddreißig Jahre in der Emigration gelebt hat und 1996 nach Krakau zurückkehrte, scheint sich nie nach der Heimat gesehnt zu haben. Seine Dramen und Miniaturen sind immer absurd, egal wo Mrozek sich gerade aufhält.
Stefan Chwin: „Die Gouvernante“. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2000, 316 Seiten, 42 DMWilhelm Dichter: „Rosenthals Vermächtnis“. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2000, 254 Seiten, 38 DMHenryk Grynberg: „Drohobycz, Drohobycz“. Zsolnay Verlag, Wien 2000, 340 Seiten, 39,80 DMHanna Krall: „Da ist kein Fluss mehr“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999, 180 Seiten, 38 DMSlawomir Mrozek: „Lolo und andere Geschichten“. Diogenes Verlag, Zürich 2000, 293 Seiten, 44,90 DMJerzy Pilch: „Andere Lüste“. Verlag Volk und Welt, Berlin 2000, 171 Seiten, 28 DM
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