: Das komische Pathos der Zivilcourage
Jedes Wörtchen zählt: In „Winslow Boy“ kämpft eine britische Bürgerfamilie mit vereinten Kräften gegen die Krone. David Mamets Film ist ein Konversationsstück über Sprache, Ehre und die Umbrüche der Edwardianischen Ära
Lohnt es sich? Das ist wahrscheinlich die Frage an einen, der ein Stück wie „Winslow Boy“ verfilmen will. Ein Stück aus dem Jahr 1946, in dem ein Vierzehnjähriger von einer britischen Militärakademie gewiesen wird, weil er eine Postanweisung über fünf Schilling unterschlagen haben soll. In dem Prozess, der dann gegen die Krone angestrengt wird, mag es um die zeitlose Frage nach Recht und Gerechtigkeit gehen. Aber warum, bitte schön, muss man dazu ins Jahr 1912 reisen und dabei das Aufbäumen einer Bürgerklasse glorifizieren, die diesen Kampf doch längst gewonnen hat. Wenn das Ergebnis doch gerade mal großes Schauspielerkino mit dem gediegenen Charme von „Die Leute vom Eaton Place“ ist.
Ob es sich lohnt, ist aber auch das eigentliche Thema des Stücks des Briten Terence Rattigan. In seinen letzten Akten ist die Bankiersfamilie Winslow verarmt, der Bart des Patriarchen weiß geworden im Kummer über die Prozesskosten, er selbst und seine Lieben sind Opfer hämischer Karikaturen. Der authentische Fall der Winslows ist vergleichbar mit den Affären um Dreyfus und Oscar Wilde, an deren Ende die Beteiligten nichts, die bürgerliche Gesellschaft aber alles gewonnen hat. Weil sie sich nicht zu schade waren, um der Wahrheit willen den Skandal zu riskieren, Prinzipienfestigkeit mit Starrsinn zu bezahlen.
Auch der amerikanische Dramatiker und Regisseur David Mamet ist ein starrköpfiger Pedant im besten Sinne. Schon sein Drehbuch zu „Wag the Dog“, eine verkappte Version des Lewinsky-Skandals, behandelte den Preis der Wahrheit in den Zeiten der Lüge. Doch sein Interesse am einst gefeierten, dann von den Angry Young Men verdrängten Autor Rattigan hat ein zweites Standbein. „Winslow Boy“ gilt als Inbegriff des wellmade play, und Mamet ist bekannt für brillante Drehbücher. Sein Film ist ein so werkgetreues wie grandioses Konversationsstück, das dem Wort des Menschen so viel Wert beimisst, wie es nur ein Normativist wie Mamet kann.
Vergessen wir jeden Subtext, allen Lug und Trug. Es beginnt mit einer Szene, die im heutigen Kino ungeheuerlich wirkt. Zweimal fragt Arthur Winslow (Nigel Hawthorne) seinen Sohn, ob er die Postanweisung gestohlen habe. Wohl überlegt sei seine Antwort, denn er werde alle Kraft und das ganze Vermögen daran setzen, die Ehre der Familie wiederherzustellen – und gehe es gegen die Krone, die zu jener Zeit juristisch unangreifbar war. Der blonde Bub antwortet zweimal mit „Nein“, und damit ist es gesprochen. Kein Zweifel kann den Zusammenhalt der Familie gefährden. Nie wieder wird Arthur seinen Ronnie fragen, selbst als alle Beweise gegen ihn sprechen.
Mit Freuden lässt seine Tochter Catherine (Rebecca Pidgeon) ihren Verlobten ziehen, der um die Aussteuer fürchtet. Und Ronnies älterer Bruder beendet sein Leben als Langzeitstudent. Mamets Kunst besteht nun darin, das unweigerliche Pathos dieser Zivilcourage durch eine Komik zu brechen, die nie auf Kosten der Charaktere geht. Die in Hassliebe geführten Rededuelle zwischen Catherine, einer engagierte Suffragette, und dem stramm konservativen Anwalt der Familie (Jeremy Northam) stecken voller Ironie und Euphemismen. Und doch weicht keiner ein Jota von seiner Position ab.
Das Edwardianische Zeitalter, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wird transparent als eine Zeit der Zwänge, aber auch der Umbrüche, die kommunikative Ehrlichkeit erfordern. Das Ringen um einen eigenen Sprachstil und eine eigene Sprachkunst, weiß Mamet, ist wohl an die Klasse gebunden, aber nicht nur an die bürgerliche. Und jede Zeit erfordert eine Sprache, mit der sich Wahrhaftigkeit ausdrücken lässt. Darum sollte man „Winslow Boy“ sämtlichen Politikern und Fußballmanagern zwangsvorführen. Und darum hat es sich gelohnt, einen Film zu machen, in dem Menschen Matrosenanzüge und Zylinder tragen. PHILIPP BÜHLER
„Winslow Boy“. Regie: David Mamet. Mit Nigel Hawthorne, Jeremy Northam u. a., USA 1999, 104 Min.
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