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Die Verhandlungsmoral der Erotik

Die sexuelle Revolution ist trotz Alice Schwarzer ein Erfolg, meint Mariam Lau. Denn heutzutage darf jeder zu seiner Lustlosigkeit stehen

Ein beliebiger Tag im deutschen Fernsehen: Auf RTL wird gefragt: „Wie konnte ich mich nur in dich verlieben?“ Passend werden anschließend „die skurrilsten Liebespaare“ vorgestellt. Eine Stunde später lautet das Diktum schon: „Kein Wunder, dass du keine abkriegst!“ Pro 7 bietet an „So hast du mich noch nie gesehen!“, um dann die Folgen zu erörtern: „Vergibst du mir oder willst du mich wirklich vergessen?“

Sex ist immer noch ein Problem, über das rastlos gesprochen werden muss. Doch scheint das Reden nicht zu helfen: Jeden Tag zur gleichen Zeit ist das gleiche Thema dran. Sex ist ein Phänomen, das der Aufklärung widersteht. Das hatte sich die Kommune 1 anders gedacht: Vor mehr als dreißig Jahren hat sie die „sexuelle Revolution“ ausgerufen, und wie bei jeder Revolution sollte am Ende die Befreiung stehen. Stattdessen wurde Star-Kommunade Rainer Langhans nur zum beliebten Talkshow-Gast. Auch er gehört längst zu den Dauer-Debattierern des Dauerthemas Sex.

Wie alles anders kam, als die Theorie es vorsah – das untersucht die Journalistin Mariam Lau in ihrem Buch „Die neuen Sexfronten“. Der Titel spielt auf „Sexfront“ von Günter Amendt an, der damit 1970 einen Klassiker der Sex-Revolutionäre verfasste. Doch beginnt Lau ihre Schilderung weit früher: mit dem Kinsey-Report, der 1948 in den USA erschien. Eine ihrer überzeugenden Thesen ist, dass die sexuelle Befreiung schon vor der Studentenbewegung einsetzte. Kommunarde Kunzelmann konnte sich nur so wirkungsvoll zu seinem Orgasmusproblem bekennen, weil es die „Spießer“ schon munter im Schrebergarten trieben – und daher leidvoll wussten, von welcher „Frustration“ der Revolutionär sprach.

Die Geschichte der sexuellen Revolution ist die Geschichte einer ewigen Enttäuschung. So wie wir heute ernüchtert auf die 68er zurückblicken, so artikulierten die Studenten damals, dass der Kinsey-Report auch nicht zur Glückseligkeit geführt hat.

Dieser Report wertete auf 800 Seiten 12.000 Interviews aus – und wurde weltweit rezipiert. Bot er doch seinen Lesern endlich die ersehnte Gewissheit: „So I’m not abnormal.“ Der anerkannte Taxonom Alfred Kinsey, der vorher die Flügelformen der Gallwespen untersucht hatte, stellte alle Sexvarianten als natürlich dar, ob dies nun die Homosexualität oder die Pädophilie war. Er entdeckte, dass Sexualmoral und Praxis weit auseinander klafften. Wie Lau zusammenfasst: „Masturbation galt als mindestens asozial, und doch taten es 92 Prozent der ganz normalen Amerikaner; Ehebruch war sogar strafbar, und trotzdem hatten 35 Prozent schon Erfahrungen damit gemacht.“ Das merkte sich die ganze Welt.

Zusätzlich lieferte Beate Uhse in Deutschland bald die neckischen Hilfsmittel und Sprüche – „seid nett zueinander“ –; und auch die Anti-Baby-Pille war konzipiert, die letzte Furcht zu nehmen. Nur: Der Sex reichte nie an die Sehnsüchte heran. Die Studenten deuteten dies marxistisch: Die Klassengesellschaft sei schuld. Herbert Marcuse lieferte ihnen die Theorie der „repressiven Entsublimierung“. Zwar gab es neue sexuelle Freiheiten – aber nur um das Volk abzulenken, damit das Kapital seine Klasseninteressen sichern kann. Wer echten Spaß beim Sex haben will, muss erst mal das herrschaftsfreie System erkämpfen.

Die Diskurse haben sich inzwischen weiterentwickelt; auf die der Studenten folgte der Feminismus, dann die postmoderne Gender-Debatte. Doch das theoretische Erklärungsmuster blieb gleich: Es sind die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, die den lustvollen Sex verhindern. Beim Feminismus ist es das Patriarchat, in der Gender-Debatte eine letztlich ungenannte Macht, die sich in die Körper einschreibt. Damit kam eine neue Ausweglosigkeit, „schlechte Stimmung“ in die Theorie: Musste man früher nur mit Marcuse gegen das Kapital ankämpfen, dann mit Alice Schwarzer gegen den Mann im Mann, so ist Foucaults anonyme Macht so diffus und doch allgegenwärtig, dass man sich nur hilflos fügen kann.

Während der theoretische Überbau immer neue Schießscharten bekam, melden empirische Studien von der Basis: „Weite Teile der heterosexuellen Welt sind inaktiv.“ Die Hälfte hat seltener als einmal pro Woche Sex; am agilsten sind noch die Verheirateten, wo es 40 Prozent auf mindestens zweimal pro Woche bringt. Der Verkehr selbst ist ungeahnt einfallslos: 80 Prozent bevorzugen es vaginal.

Nach Lau hat dies durchaus mit dem Erfolg der sexuellen Revolution zu tun. Es sei eine neue „Verhandlungsmoral der Erotik“ entstanden: Man ist rücksichtsvoll, vorsichtig, glücksorientiert. Jeder darf zu seiner Lustlosigkeit stehen. Wer Lau liest, ist hinterher beruhigt. Wie beim Kinsey-Report stellt sich die ersehnte Gewissheit ein: „So I’m not abnormal.“ Diesmal allerdings nicht, weil man tabuisierte Sexpraktiken zu verbergen hätte – sondern umgekehrt: Es ist gut zu wissen, dass die anderen auch so wenig im Bett erleben.

Eines allerdings stört die Freude: Was wie eine Beschreibung daherkommt, ist tatsächlich Polemik. Schon deshalb ist der Buchtitel „Sexfronten“ gut gewählt; auch für die Autorin gibt es Alliierte und Feinde. Bei Alice Schwarzer und Simone de Beauvoir kann sie nur „Penisneid“ erkennen, den Feministinnen und Kommunarden wirft sie „Regression“ vor. Schon die Vokabeln machen klar: Lau bedauert, dass die „Universalität des Ödipuskomplexes“ nicht mehr universal anerkannt wird.

Nun hat Lau sicher recht, dass Freud „der erste sexuelle Befreier“ war. Also wäre es konsequent gewesen, die Rückschau mit ihm zu beginnen und nicht erst mit Kinsey. Doch stattdessen wird Freud lieber aus dem Off zitiert – als tödliche Waffe im Krieg um die Diskursherrschaft. Freud erscheint so nicht mehr als historisierbare Gestalt, sondern als gottgleicher Wahrheitskünder. Ähnlich wird mit seinem Jünger Reimut Reiche verfahren. Hinter diesem Psychoanalytiker versteckt sich Lau wie in einem Schützengraben.

Gern wüsste man, warum die Autorin überhaupt so scharf urteilen muss. Vielleicht hilft ja das schlichte Mittel der psychologischen Ferndiagnose, das Lau selbst so gern bei ihren Protagonisten anwendet. Und dann hat man das Gefühl, dass da eine Mutter und Ehefrau ihr privates Glück und ihre subjektive Sicht gegen die Zumutungen der Theorie verteidigen will. Das tut sie sehr geistreich.

ULRIKE HERRMANN

Mariam Lau: „Die neuen Sexfronten. Vom Schicksal einer Revolution“.Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 224 Seiten, 39,80 DM

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