: Überlebende totgeschwiegen
Die ersten geborgenen Toten aus dem gesunkenen russischen Atom-U-Boot „Kursk“ deuten darauf hin, dass nicht alle Besatzungsmitglieder sofort nach der Katastrophe tot waren, sondern von der russischen Führung aufgegeben wurden
aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH
Russische Taucher, die seit zwei Tagen im geöffneten Rumpf des im August gesunkenen U-Bootes „Kursk“ in der Barentssee nach den Leichen der 118 Besatzungsmitglieder suchen, haben gestern einen Fund gemacht, der in Russland für Unruhe sorgen dürfte. In der Uniformjacke des Kapitänleutnants Dmitrij Kolesnikow stießen sie auf eine Notiz, die anfängliche Vermutungen bestätigt: Nicht alle Seeleute waren nach der Explosion an Bord sofort tot, wie es die Regierung offiziell verbreitete.
Mindestens 23 Besatzungsmitglieder hatten die Detonation überlebt. In seiner Nachricht teilt der Offizier mit: „Alle Besatzungsmitglieder der sechsten, siebten und achten Schotte sind in die neunte gegangen. Wir haben diese Entscheidung nach dem Unfall getroffen. Keiner von uns kann an die Spitze gehen. Ich schreibe im Dunkeln.“ Kolesnikow verfasste die Notiz gegen 13 Uhr fünfzehn, mehrere Stunden nach der Explosion.
Hat sich die mit der Aufklärung des Unfalls beauftragte Regierungskommission unter Leitung von Vizepremier Ilja Klebanow nur getäuscht? Oder täuscht sie vielmehr bewusst die Öffentlichkeit, wie sich nun zu bestätigen scheint? Ohnehin hatte das Gremium seit Arbeitsbeginn den Eindruck erweckt, nicht so sehr den Grund der Havarie klären als ihn vielmehr vertuschen zu wollen. Im Nachhinein erweisen sich auch erste Informationen nach dem Unglück als wahrscheinlich, wonach Schiffe in der Nähe der Unglücksstelle SOS-Signale der „Kursk“ aufgefangen haben wollen.
Moskau sprach damals von akustischen Täuschungen. Fegt der Sturm der Barentssee nun einige Verantwortliche hinweg? Auf die Enthüllung reagierte Klebanow gestern gelassen zynisch: „Es gab keine Chance, sie zu retten.“ Kolesnikow hätte den Zettel geschrieben und sei dann gestorben.
Unmittelbar nach dem Unfall geriet der Kreml ins Kreuzfeuer der Kritik. Weshalb hatte Wladimir Putin nicht sofort Rettungsmaßnahmen angeordnet, und warum nahm der Kremlchef erst nach Tagen Stellung, fragte die Öffentlichkeit damals. Landesweite Trauerfeiern und ungewöhnlich großzügige Abfindungen für die Hinterbliebenen nahmen dem Protest zunächst den Wind aus den Segeln. Dazu auch das persönliche Versprechen Putins, die Leichen noch in diesem Jahr zu bergen. Gleichwohl nährte die unbürokratische Finanzhilfe – jede Familie erhielt allein aus einem Präsidentenfonds binnen weniger Tage 60.000 Mark – den Verdacht, der Kreml wolle etwas verbergen und sich Schweigen erkaufen. Wodurch unterschieden sich die Opfer der „Kursk“ von den tausenden Toten, die letztes Jahr im Tschetschenien-Krieg ihr Leben lassen mussten und deren Angehörige oft unter erniedrigenden Bedingungen von Amt zu Amt laufen müssen, um eine mickrige Versicherungssumme zu erbetteln?
Der russische Staat lässt sich Mildtätigkeit nicht nachsagen. Er nimmt lieber, statt zu geben, und teilt es unter seinen Vertretern auf. Selbst im Zusammenhang mit Geldern aus anderen Quellen für die „Kursk“-Opfer kam es zu Unregelmäßigkeiten. Die Witwe des Kommandanten der „Kursk“, Irina Ljatschina, legte letzte Woche ihre Mitarbeit in einer Kommission nieder, die sich um das soziale Wohl der Hinterbliebenen kümmern sollte.
Die Ursache des Unglücks ist noch immer nicht geklärt. Die russischen Militärs sind sehr darauf bedacht, die an der Bergungsaktion beteiligten norwegischen Taucher nicht in das Bootsinnere vorzulassen. Was mag der Grund sein? Das legitime Anliegen, militärische Geheimnisse zu schützen? Oder gilt es nur die Wahrheit zu vertuschen? Nach wie vor behauptet die Flottenführung, die „Kursk“ sei nach einer Kollision mit einem amerikanischen oder britischen U-Boot gesunken. So ließe sich das Versagen bei den Rettungsmaßnahmen neutralisieren und die Schuld für das Desaster auf den Nato-Bösewicht schieben. Flottenadmiral Wladimir Kurajedow wiederholte diese Version vor kurzem in einem Gespräch mit den Witwen. Sein Trost: Nichts werde ihn bremsen, das feindliche Schiff zu finden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen