: Der Gewinner bin ich
von BETTINA GAUS
„Hol mir mal ’ne Flasche Bier, sonst streik ich hier.“ Vor zwei Jahren wäre Gerhard Schröder begeistert gewesen, dass Stefan Raab das Kanzlerwort zu einem Lied verarbeitet hat, und gemeinsam mit dem Showmaster im Fernsehen aufgetreten. Vor einem Jahr hätte er sich für beleidigt erklärt und die Möglichkeit rechtlicher Schritte gegen Raab prüfen lassen. Heute winkt er gelassen ab. Es gibt Wichtigeres. Gerhard Schröder ist lernfähig.
Diese Eigenschaft hat ihm seinen Posten gerettet. Nach den ersten Monaten seiner Amtszeit glaubte kaum jemand daran, dass Schröder eine gesamte Legislaturperiode als Regierungschef durchstehen werde. Chaos bei den Gesetzentwürfen zur Scheinselbständigkeit und den 630-Mark-Jobs, Wankelmut beim Doppelpass und in der Atompolitik, Rücktritt des Finanzministers und SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine – und zwischen all dem ein plappernder, vergnügter Kanzler, der in Designermode posierte. „Die können es nicht!“ urteilte der damalige Oppositionsführer Wolfgang Schäuble. Heute wird dasselbe über Schäubles Nachfolger gesagt. Die Umkehr der Verhältnisse ist nicht nur auf den CDU-Spendenskandal zurückzuführen. Ihre Ursache liegt tiefer.
Wer Erfolg hat, hat Recht
Gerhard Schröder hat die Bundestagswahlen mit dem Schlagwort von der Neuen Mitte gewonnen und sich dabei achselzuckend über den auch im eigenen Lager erhobenen Vorwurf des Opportunismus und der Inhaltsleere hinweggesetzt. Wer Erfolg hat, behält Recht. Heute scheint der Kanzler so fest in der Mitte der Gesellschaft zu sitzen, dass nicht einmal ein Flirt mit der PDS diese Stellung gefährden kann. Die SPD hat als einzige Partei die Auswahl unter allen – theoretisch vorstellbaren – Koalitionspartnern. Die CDU, gewöhnt an eine strukturkonservative Mehrheit in der Bundesrepublik, steht fassungslos im Abseits und irrlichtert ratlos zwischen neoliberalen, rechten und sogar sozialliberalen Positionen.
Der Richtungsstreit innerhalb der Union beruht auf einem Missverständnis. Die öffentliche Zustimmung gilt mindestens ebenso sehr der Attitüde der Kanzlers wie dessen Politik. Das politische Klima der Bundesrepublik ist stets von den Wertmaßstäben des Kleinbürgertums geprägt worden. Gegen diese Schicht kann in Deutschland niemand regieren. Eines der Erfolgsgeheimnisse von Helmut Kohl bestand darin, dass er nicht nur Verständnis für diese Wertmaßstäbe zeigte, sondern überzeugend den Eindruck erweckte, sie zu teilen. Gerhard Schröder ist auch in dieser Hinsicht sein Nachfolger.
Gesunder Menschenverstand statt Intellekt, Ringen um Konsens statt Parteiengezänk. „Es wird doch eine vernünftige Lösung geben. Warum müssen die sich eigentlich immer streiten?“ Die Frage, die eine latente Abwehrhaltung gegen den Parlamentarismus und die Parteiendemokratie verrät, ist an deutschen Abendbrottischen schon in den 50er-Jahren gestellt worden. Schröder kennt das Milieu, und er weiß es für sich zu gewinnen. Einen „Hauch von Cäsarismus“ will die Zeit im Regierungsstil des Kanzlers entdeckt haben. Ach, diese Bildungsbürger. Was für ein schiefes Bild. Einem Cäsar werden Lorbeerkränze geflochten, und er ist in den Olymp entrückt. Ein Kleinbürger spricht ein Machtwort im eigenen Haus und bleibt auf dem Teppich. So wie Schröder.
Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat vor einem autoritären Zug bei der Neuen Mitte gewarnt und darauf hingewiesen, dass es Sozialdemokraten sind, die das Prinzip des Neoliberalismus durchsetzen. Der Politologe Wilhelm Hennis klagt, dass die Ökonomie sich gegenwärtig „unter dem Beifall der Experten“ das zurückhole, „was die Politik ihr in zwei Jahrhunderten abgerungen hat“. Hört jemand hin? So lange die Regierung nicht regierte, wurde über ihren möglichen Kurs noch diskutiert. Spätestens seit Lafontaines Rücktritt scheint die Frage, ob die Politik den Primat über die Wirtschaft zurückgewinnen kann und muss, veraltet. (Fast) alle stehen gerne auf der Seite des Gewinners. Der ehemalige Provinzpolitiker aus Niedersachsen hat gewonnen.
Ernst zu nehmende Gegenspieler des Bundeskanzlers sind nicht in Sicht, weder im eigenen Lager noch bei der Opposition. Manche parteiinternen Kritiker wie den früheren saarländischen Ministerpräsidenten Reinhard Klimmt oder den einstigen SPD-Linken Gernot Erler hat er mit attraktiven Posten ruhiggestellt. Der Union bereitet Schröders Kompromissbereitschaft mindestens ebenso große Probleme wie die eigene Krise. Gegenwärtig stellt sich für die Opposition nicht die Frage, wer Kanzlerkandidat werden darf – sondern wer es werden muss.
Gewiss, irgendetwas kann immer schiefgehen. Vielleicht steigt der Benzinpreis auf über drei Mark. Vielleicht heizt der Absturz des Euro die Inflation so sehr an, dass die Wähler meutern. Vielleicht fällt der Mond vom Himmel. Aber wenn nicht mehrere, heute noch unvorhersehbare Ereignisse die politische Landschaft gleichzeitig erschüttern, dann kann Gerhard Schröder dem Wahlkampf beruhigt entgegensehen.
Dabei ist auch zwei Jahre nach seinem Amtsantritt unklar, welche Linie er vertritt. Gerechtigkeit, Modernisierung, Zivilgesellschaft, Verantwortung: In kaum einer seiner Reden kommt er ohne diese Schlüsselwörter aus. Was besagen sie? Benachteiligt die Steuerreform den Mittelstand, wie der Unions-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz behauptet? Nimmt die Regierung zu wenig Rücksicht auf die sozial Schwächeren, wie die wenigen versprengten Linken meinen? Vernachlässigt die Rentenreform den Aspekt der Generationengerechtigkeit, wie viele glauben? Egal.
Schröder ist der erste Kanzler, der die Deutungshoheit über seine Politik niemals gesucht hat. Er macht sie einfach. Eine bestimmte Form der Eitelkeit hat das Handeln fast aller seiner Vorgänger bestimmt. Ihm scheint sie fremd zu sein: Bisher jedenfalls ist nicht erkennbar, dass er seinem künftigen Bild in den Geschichtsbüchern irgendeine größere Bedeutung beimisst. In einer Zeit, in der ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung die Politik für ein schmutziges, vor allem aber für ein schwer durchschaubares Geschäft hält, vermittelt Gerhard Schröder nur eine einzige klare Botschaft: Macht euch keine Sorgen, ich regele das schon.
Momente des Wandels
Das allein genügt aber nicht. Wenn ein Bundeskanzler sich die Unterstützung der Mehrheit langfristig sichern will, dann darf er in den Augen dieser Mehrheit nicht einfach nur ein Regierungschef sein. Er muss für einen Staatsmann gehalten werden. Es sind immer Momente, in denen sich dieser Wandel vollzieht. Die Strickjacke von Helmut Kohl, die er bei seinem historischen Treffen mit Michael Gorbatschow trug, hängt heute im Museum für Deutsche Geschichte in Bonn. Von Schröder bleiben Fernsehbilder im Gedächtnis: Ernst verkündet er vor einer Bücherwand den Beginn der Nato-Angriffe auf Jugoslawien, an denen die Bundeswehr sich beteiligt. Weder vaterlandsloser Geselle noch Spaßkanzler – der Nachweis war erbracht.
Der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel hat kürzlich gegenüber der taz erklärt, er halte den Rechtsextremismus für ein Problem des Kerns dieser Gesellschaft. Wenn aus Stimmungen, die früher lediglich latent vorhanden gewesen seien, die Bereitschaft zu konkretem Handeln werde, dann deute das auf ein insgesamt verändertes politisches Klima hin. Eine bemerkenswerte Auffassung – zumal dann, wenn sie von einem sozialdemokratischen Spitzenpolitiker kommt, der als besonders treuer Gefolgsmann des Bundeskanzlers gilt. Welche Rückschlüsse lassen sich daraus hinsichtlich der Regierungspolitik ziehen? Darüber ließe sich konstruktiv streiten. Will das jemand?
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