: Reales Pathos
Eine glückliche Wiederentdeckung: Marie Epsteins Filmklassiker „La Maternelle“ läuft heute im Kino Arsenal
Kleine und noch kleinere Blagen in fleckigen und zu großen Klamotten, mit aufgeschlagenen Knien und schrägen Schleifen im Haar – angesichts der knuddeligen Wesen konnte ich mir während der Vorführung von „La Maternelle“ natürlich einige verzückte Ausrufe nicht verkneifen. Was ist wohl aus den Würmchen geworden, die Marie Epstein und Jean Benoît-Lévy vor siebzig Jahren so sorgsam in den ärmeren Stadtteilen von Paris gecastet haben? Und warum sind ihre Bilder von der Vorschule für Arbeiterkinder so schön anzusehen, ohne dass sie an Aussagekraft verlieren?
Während man heute allergisch reagiert, wenn sozial engagierte Filme das Elend dekorativ in Szene setzen, hatten die Vertreter des poetischen Realismus die Mixtur von Kunst und Leben irgendwie raus. So lassen die streng kadrierten Bilder von „La Maternelle“ gar nicht zu, dass die Armut zum Ornament wird. Die traurigen Augen und schmutzigen Händchen der Kinder werden auch nicht als Zeichen abgefilmt, dafür sind sie viel zu lebendig – und mit sich selbst identisch.
Wenn der feministisch orientierte Filmverein „Blickpilotin“ Marie Epsteins Klassiker jetzt nach Berlin holt, dann sollte man das als Event gleich in mehrfacher Hinsicht feiern. Mit der Präsentation wird ein Stückchen Kinogeschichte geradegebogen, denn die Schauspielerin, Drehbuchautorin, Regisseurin und Filmrestauratorin Marie Epstein hat sich mit ihrer eigenen Schüchternheit mit der Zeit fast zum Verschwinden gebracht. Die Nennung ihres Namens war ihr völlig egal, in der Zusammenarbeit mit Lévy ließ sie sich allenfalls als Co-Autorin ein Credit geben.
Immer wieder holte Marie Epstein Frauen auf die Leinwand, die wie die Heldin aus „La Maternelle“ plötzlich gezwungen sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Rose (Madeleine Renaud) eine junge Frau aus gutem Haus, muss nach Pleite und Tod ihres Vaters als Putzfrau in einer Vorschule arbeiten. In ihren zärtlichen Blicken und Gesten finden die unglücklichen Kinder wenigstens für einen Augenblick Geborgenheit.
Während der Film Roses Fall als Anlass nimmt, die Armut in den Pariser Arbeitervierteln zu dokumentieren, sorgt die melodramatische Liebesgeschichte zwischen ihr und einem Kinderarzt fürs Kinogefühl. Genau diese gelungene Gratwanderung zwischen Authentizität und Pathos, zwischen Realismus und Romantik treibt einem bis heute die filmhistorisch sanktionierten Tränen in die Augen. ANKE LEWEKE
„La Maternelle“. Regie: Marie Epstein, Jean Benoît-Lévy. Frankreich 1933. Länge: 100 Minuten. Heute abend um 19 Uhr im Arsenal, Potsdamer Straße 2 in Mitte
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