: Neulich in einem Paralleluniversum
Akuten Psychosen mit Esoterik begegnen? In der anthroposophischen Psychiatrie gibts auch erst mal Tabletten, der Unterschied zur Schulmedizin ist nicht groß. In der Therapie soll aber der Mensch und seine Seele im Mittelpunkt stehen
Physischer Leib, Ätherleib, Astralleib – welcher verweilt gerade in welchem Paralleluniversum, oder wie soll das einem Schulmediziner erklärt werden? Anthroposophische Medizin wird auch im psychiatrischen Bereich praktiziert. Allerdings „ist sie nicht der Erfolgshit der Anthroposophen?“, meint Andreas Grüner, anthroposophischer Allgemeinarzt aus Trier.
Vertieft und erweitert sie die naturwissenschaftlich orientierte Medizin auch in diesem Gebiet, oder verwirrt geistig-spirituelle Betrachtung und Behandlung Menschen mit akutpsychotischer Episode nur noch mehr?
In anthroposophisch ausgerichteten Psychiatrien wird auf Grundlage dieser Medizin und Menschenkunde therapiert, allerdings neben der modernen naturwissenschaftlichen Methode. Der Lehre Rudolf Steiners folgend beinhaltet sie den Ansatz der Entfaltung der Individualität, die Krankheitsprophylaxe, eine ganzheitliche Heilmethode sowie die Entwicklung der eigenen Kreativität.
Die herkömmliche Medizin bedürfte demnach selbst einer Heilung: der Verbindung mit einem spirituellen Ansatz. Ist es also, wie die anthroposophische Lehre nahe legt, Karma, psychiatriebetroffen zu sein? Wie steht es mit der Re-, Ex- und Inkarnation? Wie sieht die Therapie unter solchem Vorzeichen aus? Wie sind die Erfolge?
Eine gute offene Psychatrie bietet: Chi-Gong, Tai-Chi, Malen, Musik, Bewegung, Atemübungen, Hirnleistungstraining, autogenes Training, Massagen, Fango, Flechten, Töpfern, Konzerte, Ausstellungen, Ausflüge und Gottesdienste.
Bei den Anthros gibts Heileurythmie, rhythmische Massage, Bothmer-Gymnastik, Wickel und Bäder, Gartenarbeit, Plastizieren, Sprachgestaltung, Vorträge, Konzerte, Eurythmieaufführungen und Feste an den christlichen Feiertagen. Die Therapieangebote unterscheiden sich also nicht wesentlich von der schulmedizinischen Vorgehensweise.
Medikamentöse Behandlung steht in beiden Fällen im Zentrum, nur ist der Denkansatz ein anderer: Nach anthroposophischer Auffassung bedarf die Heilung der Seele vor allen Dingen der Behandlung des Körpers. Deshalb werden äußere Behandlungsmaßnahmen besonders betont. Bewegungstherapie, künstlerische Therapien, Einzel- und Gruppentherapie, Arbeitstherapien, Sozialdienst, kulturelle Veranstaltungen und natürlich Gespräche mit allen dort Arbeitenden.
Dies alles bietet die offene Psychiatrie auch, zum Teil nur unter anderem Namen. Die Anthroposophen addieren noch natürliche Heilmittel, extensivere wohltuende Körperbehandlung (etwa Überwärmungstherapie), Nahrung aus biologisch-dynamischen Anbau, beruhigende Farbgestaltung nach Goetheanischer Farblehre, eine andere Weltanschauung sowie eine größere Anzahl von Therapeuten.
Der Aufenthalt dort ist „doppelt so lange wie im Landesdurchschnitt von Baden-Württemberg“, meint Dr. Dieter Beck, einer der drei leitenden Ärzte der Friedrich-Husemann-Klinik in Buchenbach, der einzigen Anthro-Klapse in Deutschland.
Bei Notwendigkeit gibt es auch Psychopharmaka, denn „ohne Medikamente ist eine Psychose nicht behandelbar. Die Erfindung der Neuroleptika war eine Revolution“, meint Grüner. Allerdings wird angestrebt, sie möglichst nur über kurze Zeiträume anzuwenden: Die natürlichen Heilmittel sollen besser und schneller wirken können. Gehofft wird hier auf die Prozesse der Selbstheilung. Zusätzlich vielleicht noch ein bisschen Antimon? Ein Metall, dem zugeschrieben wird gegen „Schizophrenie“ zu wirken. Natürlich gerührt und in besonderer Potenz individuell auf den Patienten abgestimmt.
Der individuelle Mensch und seine Seele soll im Zentrum der Therapie stehen. Er soll ernst genommen werden. Dazu gehöre laut Dieter Beck auch, dass der Patient nicht mit Eso-Gelaber und -Geschreibe bombardiert werde. Denn: „Ein nicht sachgemäßer Umgang mit Esoterik kann eine Psychose auslösen“ und „wir missionieren nicht“.
Dazu noch Baldrian und Hopfen statt Valium? Ans Bett schnallen. Kontakte untersagen. Einsperren. Offene, halboffene, geschlossene Stationen, alles wie gehabt. „Wir haben deutlich weniger hochaggressive Patienten.“ Und über die Erfolge „führen wir keine Statistik“, meint Beck. Aha.
Dafür ist die Husemann-Klinik im Grünen gelegen, Spaziergänge eingeschlossen. Erwartet werden keine Vorkenntnisse der Anthroposophie, aber die Bereitschaft, sich auf diese Behandlungsform einzulassen. Und die Kasse zahlt auch. Doch gibt es in Deutschland kaum Einrichtungen dieser Art. SABINE DICK
Friedrich-Husemann-Klinik. Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. 79256 Buchenbach bei Freiburg i. Brsg. Tel. (0 76 61) 39 20. Gemeinnütziges Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Neurologische, psychiatrische und kinderpsychatrische Station. 58313 Herdecke/Ruhr. Tel. (0 23 30) 6 20. www.Gemeinschaftskrankenhaus.de
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