: Menschenzoo im Container
Verdeutlicht „Big Brother“ einen um sich greifenden Alltagsfaschismus? Die „Menschenausstellung“ im Fernsehen verfolgt eine lange Tradition. Eine historisch-philosophische Betrachtung
von PEER ZICKGRAF
Unter bestimmten, extremen und künstlichen Umständen geschieht es, dass Menschen sich erniedrigen und zu Tieren verwandeln lassen. „Big Brother“ ist ein solcher Fall, allerdings unter hoch entwickelten technischen und medialen Bedingungen.
Welchen persönlichen Gewinn aber bietet „Big Brother“ seinen Konsumenten an und welchen historischen Linien folgt die Sendung? Im Kern geht es bei „Big Brother“ um einen kalkulierten Opfervorgang auf dem Altar des schnellen Geschäfts, in dem das Publikum, also wir Zuschauer, als Überlebende vorgesehen sind. Slatko, Kerstin, Manu & Co. oder nun Christian, Karim, Stefanie & Co. von der zweiten Staffel werden den Zuschauern zum Fraß vorgeworfen: Moderner TV-Kannibalismus in der Tradition der römischen Gladiatorenspiele und der kolonialen Menschenzoos. Kannibalismus ist nach Forbes „das Verzehren des Lebens eines anderen für private Zwecke unter Profit“. Die Helden werden in den 106 Tagen von Hürth zur Projektionsfläche für die Affekte des Publikums. Verehrung oder Hass und verbale Hinrichtungen erwarten die künftigen Medienstars. Der Preis für den Starkult und für den Ausschluss der Massen vom Rampenlicht ist das Opfer und die Entmenschlichung.
Das Dekor des Containers und die Anordnung der Kameras liefern einen interessanten Hinweis auf den beabsichtigten Opferungsvorgang: Im Zentrum des Containers befindet sich ein Kamerakreuz. Von diesem Kreuz aus – Symbol für Sünde, Opfer und Erlösung – überwachen die Kameraaugen restlos alle Lebensbereiche der Bewohner und liefern sie dem mächtigen Publikum draußen vor dem Bildschirm oder dem Container aus. Kerstin, eine Insassin der ersten „Big Brother“-Staffel hat dies so beschrieben: „Du bist einfach völlig außerhalb der Normalität und draußen wächst die Masse immer mehr. (. . .) Aber der Schauplatz des Geschehens war von Anfang an so gewählt, dass man uns nicht schützen konnte. Das machte mir Angst. Und in dem Moment, als die Masse pöbelte, habe ich Gewalt vor mir gesehen.“
Ähnlich dramatisch ging es am 14. Oktober während eines Besuches von FDP- Generalsekretär Westerwelle in dem Container zu. Nachdem die unbeliebte Stefanie in der TED-Abstimmung deutlich ihrem Intimfeind Christian unterlag, erwartete sie vor dem Container eine aggressiv aufgeladene Meute mit Transparenten wie „Steffi, du Zicke“, oder „Hexen raus“. Gespenstische „Steffi raus“-Rufe hallten bis in den Container und lösten bei den verbliebenen Insassen Bestürzung aus. Eine Pogrom-Stimmung wie beim Hexensabbat. Für das selbstverursachte Menetekel fand Karim nur hilflose und zugleich entlarvende Worte: „Irgendwo ist der Punkt erreicht, da geht es um Menschlichkeit.“
Gewalt, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus waren eigentlich auch die geplanten Gesprächsthemen während Westerwelles halbstündigen Besuchs. Stattdessen stürzten sich die Insassen unter Schlachtrufen wie „Was zu essen“ auf die vom FDP-Mann mitgebrachten Fressalien. Dann Westerwelle: „Man muss die Leute ein bisschen für die Demokratie gewinnen. Ihr lebt ja auch gewaltfrei.“ Antwort der Bewohner: „Noch, noch.“ Während dieser Gruppenszene ist die Kameraeinstellung so gewählt, dass im Hintergrund ein Kruzifix an der Wand zu sehen ist. Alles dies bestens inszeniert von der Regie, die Verwandlung der Bewohner zu Opfertieren könnte technisch kaum perfider gehandhabt werden.
Verwandlungen von Menschen zu Tieren sind auch ein durchgehendes Thema bei Kafka. In seiner Parabel des „Hungerkünstlers“ (1924) entwickelt er die surrealistische Szene eines grotesken Opferungsvorganges. Sein Protagonist reist als Extrem-Hungerkünstler durch Europas Hauptstädte und bricht alle Rekorde, bis sich das Publikum anderen Attraktionen zuwendet. Als der völlig ausgezehrte Hungerkünstler unbeachtet in einem Zirkus verendet, wird er durch einen Panther ersetzt, in dessen Bann das Publikum gezogen wird. Kafkas Parabel erhellt die unbewussten Mechanismen von Opfer, Kannibalismus und Überleben. Der Fernsehkannibalismus bei Big Brother stellt lediglich die technisch avanciertere Form der Verzehrung von Menschen unter den voyeuristischen öffentlichen Augen dar.
Lange vor dem Erscheinen medialer Menschenzoos begann in Europa eine Periode kolonialer Menschenausstellungen, die ein Höchstmaß an darstellerischem „Realismus“ anbieten wollten, vergleichbar dem Anspruch von „Big Brother“, unverfälschte, also nicht professionelle Schauspieler im Fernsehkäfig vorzuführen. Im Jahr 1869 eröffnete Karl Hagenbecks „Thierpark“ die erste Menschenschau mit Samoanern und Lappen als „anthropologisch-zoologisch“ definierte Schaustellungen. Seine Darbietungen „unverfälschter Naturmenschen“ zusammen mit von ihm patentierten Panoramen, lockten erst in Deutschland, dann auch europaweit ein Millionenpublikum an. Eine der letzten großen Menschenausstellungen fand 1931 in Paris statt, bis der exotische Abenteuerfilm aufkam und das Unterhaltungsgeschäft mit den Menschenzoos verdrängte bzw. in die Kinosäle verlegte. Die Ausbreitung von Menschenzoos war eine Auswirkung der kolonialen Expansion Europas und galt deren Legitimierung. Der Blick auf das Fremde war unverhohlen kannibalistisch und entwirklichend. Die Inszenierung verwandelte die Zuschauer in europäische Sieger und Überlebende, die sich den kolonialen Opfern gegenüber wie die Herren zu ihren Tieren verhielten: als Inhaber absoluter Macht.
Ab heute lautet die Devise in diesem Land also: Überleben. Nach diesem Gedanken und unter dem Motto „Bitte liebt Österreich“ hat der Theaterregisseur Schlingensief auf die Containerbewegung reagiert. Zwölf Asylantinnen und Asylanten zogen im Juni in einen Container vor der Wiener Staatsoper und durften nach dem „Big Brother“-Prinzip per TED-Abstimmung nominiert und symbolisch abgeschoben werden. Schlingensiefs künstlerischer Provokationsvorschlag hat „eine ungeheure Menge an dunklem Material“ und sozialen Affekten (Sloterdijk) offen gelegt. Er verdeutlicht zudem, wie viele Verlierer für einen Sieger heut zu Tage geopfert werden. Offenbar repräsentiert „Big Brother“ einen um sich greifenden Alltagsfaschismus. Und aus einem Spiel mit symbolischem Material kann eines Tages blutiger Ernst werden.
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