: Der Rasierklingentänzer
Nicht nur der Fußballtrainer Christoph Daum leidet unter „Realitätsverlust“, sondern auch jene, die ihn in einer Verschwörung des Verleugnens lange in den Himmel hoben und unantastbar machten
von HORST-EBERHARD RICHTER
Warum geraten alle ins Faseln und Stottern, die öffentlich sagen sollen, was ihnen zu Christoph Daum einfällt? Weil sie keine logische Erklärung zur Hand haben. Dass der Unglückliche sich über das Risiko der freiwillig erstrebten Haaranalyse getäuscht haben oder von anderen getäuscht worden sein soll, will nicht einleuchten. Also muss er an einem „Realitätsverlust“ gelitten haben oder noch leiden. Müsste man ihm dann aber nicht die Verrücktheit anmerken? Kann einer geistesgestört sein und dabei als Trainer täglich zielstrebig in der Realität enormes leisten und Mannschaft, Vorstand, Fans, den DFB und das große Fußballpublikum so überzeugen, dass nur ein paar störrische Bayern den Dolchstoß wagten – wobei sie fast in Schmach und Schande versunken wären?
Es muss also schon eine andere als die geläufige Verrücktheit aus dem Psychiatrie-Lehrbuch sein. Wahrscheinlich kam sie deshalb nicht ans Licht, weil die Mitwelt irgendwie mit drinsteckte, jedenfalls die vielen, die längst etwas aufgeschnappt, geahnt oder sogar schon gewusst, dennoch am Ende geschwiegen hatten. Sogar die sonst wenig schamhaften Medien hielten bis auf Ausnahmen sonderbarerweise an sich – und partizipierten somit an der Verschwörung des Verleugnens. Wer will uns weismachen, dass es für findige Journalisten bei ernsthafter Absicht zu schwierig gewesen wäre, die Wahrheit längst aufzudecken?
Wenn sich in einer voyeuristischen Gesellschaft, die wie besessen nach Skandal-Enthüllungen lechzt, ein Christoph Daum über Jahre ungeniert wie der berühmte Kaiser ohne Kleider bewegen konnte, dann doch nur, weil ihn ein sonderbares Tabu schützte. Der Mann war unantastbar. Und weil er sich selber so sah, verlor er die Bodenhaftung. Beides spielte in kreisförmiger Selbstverstärkung zusammen: Die lähmende Faszination der Umwelt und das Schwinden seiner Selbstkontrolle.
Aber warum wurde ausgerechnet so einer zu einer Kultfigur, den das RWE-Magazin agenda als „Hoffnungsträger, Heilsbringer, Erlöser“ und als „Herrn der Herrlichkeit“ feierte? Nur er, so schien es, würde die unerträgliche Kränkung des Fußballvolks durch die Europameisterschaftsschlappen tilgen können. Aber warum nur er?
Wohl weil er sich in einzigartiger Weise als Identifikationsfigur anbot: der arme Junge, der von ganz unten kam, aber sich mit unbändigem Ehrgeiz und enormer Power nach oben schuftete, der beinahe alle besiegte, um ein Haar sogar die arrogante Münchener Millionärselite. Er kam nicht als Kaiser, vielmehr als unermüdlicher Arbeiter daher, ohne Brillanz, aber stets mit fester, manchmal finsterer Entschlossenheit in der Rede und im Blick. Seine und unsere Energie passen zusammen, fand sogar der Energiekonzern RWE und kürte Christoph Daum zu seinem Werbeträger Nummer eins.
Dennoch fehlte dem Mann, dem immer die Rastlosigkeit und der Stress im Gesicht standen, der Glanz einer Lichtgestalt. Man sah ihm an, dass er sich permanent verzehrte. Seinen „Mut zum Tanz auf der Rasierklinge“ lobte das Werbemagazin, ohne zu ahnen, wie genau dieses Bild zu der wahnhaften Selbstüberschätzung und der gleichzeitigen Risikoblindheit des Gepriesenen passte. Aber eben dieses Balancieren zwischen Triumph und verrückter Selbstgefährdung – ist es nicht überhaupt der symbolische Ausdruck unserer Kultur der Höchstleistungen – immer am Rande unserer natürlichen Grenzen.
Wir wissen, aber wollen nichts davon hören, dass schon in unserer Schuljugend die Leistungsstimulierung durch Drogen zum Massenproblem geworden ist. Wir wissen, aber wollen nichts davon hören, dass Kokain sich als Modedroge stetig weiter ausbreitet. Mark Spitz schätzte, dass in Sydney mindestens 50 Prozent der Sportler von verschleierten oder überhaupt unkontrollierbaren Dopingmitteln profitiert hätten. Werden wir wirklich davor zurückscheuen, wenn es in gar nicht ferner Zukunft möglich sein wird, gentechnisch Superathleten maßschneidern zu lassen? Und sind wir nicht schon insgeheim überall dabei, um der permanenten Leistungssteigerung willen die Grenzen unserer Natur und des menschlichen Maßes mit künstlicher Nachhilfe zu überschreiten?
Die Verleugnung dieser Tatsache ist auch schon ein partieller Realitätsverlust und vielleicht mit ein Grund dafür, dass Christoph Daum nicht nur als triumphaler Trainer, sondern gerade auch als risikoverachtender Tänzer auf der Rasierklinge für kurze Zeit zu einer fast mythischen Identifikationsfigur aufsteigen konnte.
Prof. Horst-Eberhard Richter (77) ist einer der renommiertesten deutschen Psychoanalytiker und Friedensforscher, lehrte in Berlin und Gießen und ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. „Lernziel Solidarität“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen