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An der Schwelle zum Aufstand

aus Guatemala-Stadt TONI KEPPELER

„Wir haben 500 Jahre Unterdrückung ertragen. Da können wir auch 500 Jahre um unsere Rechte kämpfen.“ Pedro Esquina, Sprecher der „Nationalen Koordination der Indios und Landarbeiter“ (Conic) in Guatemala, weiß: Der Kampf der guatemaltekischen Maya um ihre Rechte hat gerade erst angefangen. Jüngst errichteten Conic-Aktivisten im ganzen Land Straßenblockaden aus brennenden Autoreifen. In der Hauptstadt gab es eine Demonstration wie seit 25 Jahren nicht mehr. Innerhalb einer Woche haben sich rund 40.000 Mayas erhoben. „Es ist der Schrei der Ausgegrenzten“, sagt Esquina. Die Ureinwohner Guatemalas, rund 60 Prozent der 12 Millionen Einwohner des Landes, erwachen aus langer Apathie.

Auch Bolivien wurde im September und Oktober von indianischen Landarbeitern und Kokabauern mit Straßenblockaden lahm gelegt – die Armee musste die wichtigsten Städte per Luftbrücke mit Lebensmitteln versorgen. In Honduras besetzten Indios der Lenca und Chorti die Ruinenstadt Copan. Das einstige politische und kulturelle Zentrum ihrer Vorfahren ist heute eine der wichtigsten Einnahmequellen der honduranischen Tourismus-Industrie.

Die Guerillas sind gescheitert

Der Süden Chiles befindet sich seit Jahren an der Schwelle eines Guerillakriegs. Dort kämpfen die Mapuche mit Prügeln und Äxten gegen einen Staudamm in ihrem Siedlungsgebiet und die Vernichtung ihrer Wälder durch internationale Holzkonzerne. In Ecuador haben die Quechua unter der Führung der „Nationalen Koordination der Indigenas von Ecuador“ (Conaie) im Januar gar den Präsidenten verjagt und waren acht Stunden lang an der Macht. Bis sie von den Militärs, die sie zunächst unterstützt hatten, verraten wurden.

Die Ureinwohner Lateinamerikas fordern ihre Rechte ein. Nach dem Ende der Militärdiktaturen und der meisten Guerillakriege werden sie in den kommenden Jahren dafür sorgen, dass die saturierten und fast durchweg weißen Oligarchenkreise des Subkontinents nicht zur Ruhe kommen.

Die Guerillas der vergangenen Jahrzehnte kämpften theoretisch für den Sozialismus. In der Praxis gaben sie sich mit halbherzigen Agrarreformen, formaler Demokratie und ein bisschen politischer Beteiligung zufrieden. „Die Konflikte der vergangenen Jahrzehnte waren in das Schema des Kalten Krieges eingebunden“, sagt der guatemaltekische Maya-Führer Juán León. „Und wie das Sozialimus-Modell im Ostblock gescheitert ist, sind letztlich auch die Guerillabewegungen gescheitert.“

Darf eine Maya Ministerin sein?

In Guatemala ist trotz eines 36 Jahre langen Bürgerkriegs (1960 bis 1996), trotz 200.000 Toten und einem Friedensvertrag noch immer mehr als die Hälfte des Bodens in der Hand von 2 Prozent der Bevölkerung. 90 Prozent der Maya leben unterhalb der Armutsgrenze. Mehr als die Hälfte sind Analphabeten. Der Guerillakrieg, geführt von Intellektuellen der städtischen Mittelschicht, hat ihnen nichts gebracht. Im Gegenteil: Sie waren immer nur die Opfer: 83 Prozent der Toten waren Maya. In ihren Dörfern beging die Armee mehr als 600 Massaker. Mehr als 400 Siedlungen wurden zerstört. Die Folgen fasst Kulturministerin Otilia Lux de Coti in wenigen Worten zusammen: „Traurigkeit, Apathie, Alkoholismus, eine steigende Zahl von Selbstmorden.“

Lux de Coti ist eine der wenigen Maya-Vertreterinnen im Kabinett. Ihre Ernennung bezeichneten die Hauptstadtzeitungen der Weißen und Mestizen als „nationale Schande“. „Wir werden noch immer als Teil des Waldes wahrgenommen, wie die Tiere“, sagt Lux de Coti. „Ich habe Besucher im Ministerium, die sich hinterher die Hände mit Alkohol desinfizieren, weil sie eine India angefasst haben.“

Lux de Coti ist auch unter den Maya umstritten. Darf man sich in eine Regierung von Unterdrückern einbinden lassen? Gibt es dort überhaupt Spielräume, die man nutzen kann? Lux de Coti: „Es ist wichtig, dass eine Frau und Indigena Ministerin ist. Es zeigt, dass wir das auch können.“ Selbst Kritiker stimmen mit ihr überein, dass solche Figuren Symbolkraft haben.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei bei den Protesten in Guatemala die uralte Forderung nach Land jetzt von neuen Akteuren vorgebracht worden. Tatsächlich aber geht es den Indigenas in ganz Lateinamerika um viel mehr. Sie sprechen nicht mehr von „Land“, sie fordern ein „Territorium“. Mit einer Argrarreform lässt sich diese Forderung nicht erfüllen. „Ein Territorium ist nicht nur bebaubares Land“, sagt Lourdes Tibán, engste Beraterin des ecuadorianischen Conaie-Führers Antonio Vargas. „Auf einem Territorium spielt sich unser gesamtes Leben ab. Es meint genauso den Schutz unserer natürlichen Umwelt, die Verfügungsgewalt über die Bodenschätze, unser traditionelles Rechtssystem, unsere Sprachen, unsere Sitten und Gebräuche.“ Mit anderen Worten: Die Forderung nach einem Territorium stellt die Verfasstheit der lateinamerikanischen Staaten in Frage.

Seit den Tagen des Kolonialismus hat sich an der wirtschaftlich-politischen Struktur Lateinamerikas nichts Wesentliches geändert. Die Spanier schufen ein Hacienda-System, das die Ureinwohner wie Leibeigene hielt. Die Unabhängigkeitskriege des 19. Jahrhunderts wurden wie in Nordamerika nicht von den Kolonisierten angezettelt, sondern von den Kolonialherren. Die daraus entstandenen Republiken waren nie fürs Volk, sondern ausschließlich für die Oligarchie. Immer, wenn ihre Macht von unten in Frage gestellt wurde, verschanzte sie sich hinter dem Militär. Und auch in den formalen Demokratien, die nach den Diktaturen entstanden sind, hat die Oligarchie noch immer das Sagen.

Ihre Macht wird allenfalls durch die Globalisierung eingeschränkt. Doch die Manager der internationalen Konzerne, die bei Privatisierungen in Lateinamerika einkaufen, sind ebenso Weiße. Meist kommen sie – wieder – aus Spanien. Die Indigenas aber leben im Hinterland von Guatemala noch immer wie Leibeigene auf riesigen Haciendas. Oder abgedrängt auf kargen Böden, wie in Ecuador.

Diese Struktur soll überwunden werden. Maya-Führer Juán León gibt unumwunden zu: „Wir wollen einen neuen Staat.“ Und er gibt auch zu, dass er nicht weiß, wie genau dieser Staat einmal aussehen soll. „Zunächst müssen wir unsere eigene Identität stärken und dann mit dem Staat verhandeln.“ Nicht eine eigene Maya-Partei gründen, mit der man im Parlament mit viel Glück eine starke Minderheit stellen könnte. León fordert ein eigenes Maya-Parlament neben dem vom Weißen und Mestizen dominierten nationalen Parlament. Er will keinen multikulturellen Mischmasch, sondern einen interkulturellen Austausch.

Die weißen Eliten haben Angst

Die weißen Eliten sind verunsichert. Nie haben sie sich darum bemüht, die Indigenas zu verstehen. Sie sind ihnen noch immer fremd. Fremdes macht Angst. Seit sich die Maya in Guatemala erhoben haben, kursieren Gerüchte über einen möglichen Staatsstreich der Militärs. Im Januar reichte in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito eine Demonstration von 7.000 Quechua aus, um Präsident Jamal Mahuad zu verjagen. Das ging erstaunlich einfach. Als die Demonstration aufs Parlament zumarschierte, räumten die Wachsoldaten die Sperren weg. Der Präsident floh aus dem nahe gelegenen Regierungspalast.

1990 waren die ecuadorianischen Indianer zum ersten Mal nach Quito gezogen, um Land und Trinkwasserversorgung zu fordern. Sie bekamen beides. 1992 kamen sie wieder und verlangten Schutzzonen für die Amazonas-Indianer. Sie bekamen 1,1 Millionen Hektar für 148 Dorfgemeinschaften. 1994 protestierten sie mit einem Marsch gegen eine von Großgrundbesitzern initiierte Landreform. Das Gesetzesvorhaben wurde zurückgezogen. 1999 forderten sie eine Senkung der zuvor erhöhten Benzinpreise. Sie hatten zumindest zeitweise Erfolg.

Wenn es diesmal nicht klappt ...

Im Januar dieses Jahres erhoben sich die Quechua gegen die Privatisierungspolitik, und plötzlich war Conaie-Führer Vargas Mitglied einer dreiköpfigen „Junta zur nationalen Rettung“. Acht Stunden lang. Dann wurden er und seine Bewegung vom einzigen Militär im Triumvirat verraten. General Carlos Mendoza lief von der Junta zur Restregierung über. Vizepräsident Gustavo Noboa wurde in aller Eile in einer Kaserne vereidigt. Als Präsident setzt er heute die Privatisierungspolitik seines Vorgängers fort. Und trotzdem sagt Vargas mit indianischer Geduld: „Das war keine Niederlage, sondern eine wichtige Erfahrung. Wenn es diesmal nicht klappt, dann eben beim nächsten Mal. Wir haben keine Eile.“

Conaie ist schon dabei, die nächste Erhebung zu organisieren. Langsam und ohne großes Aufsehen, mit Versammlungen und Diskussionen in den Gemeinden. Niemand weiß, ob es noch in diesem Jahr losgeht oder erst im nächsten. Indigenas entscheiden nach dem Konsensprinzip, und das braucht seine Zeit.

Die Kolumnisten der Hauptstadtzeitungen zittern schon heute. Der Politologe Diego Bonifaz warnt: „Das sind vier Millionen Ecuadorianer“, ein Drittel der Bevölkerung. „Sie sind besser organisiert als alle anderen.“ Und der Kommentator Simón Pachano weist darauf hin, dass sie schon einmal einen Präsidenten gestürzt haben. „Wenn sie es wollen, können sie es wieder tun.“

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