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„Ein Zeitfenster, das zugeht“

Wildwandern auf alten Wegen in den italienischen Westalpen. Die Fernwanderroute GrandeTraversata delle Alpi soll die Verödung der alpinen Kulturlandschaft verhindern. Die Ostroute darbt

Die Wege haben noch menschliches Maß. Sie sind nichtfür Autos gebaut.

von EDITH KRESTA

San Sisto im Gilbatal ist ein ruhiger, einsamer Ort. Aber ich kann keinen Schlaf finden. Jede Bewegung meiner 14 MitwandererInnen in unserem Gemeinschaftsschlafraum nehme ich wahr: das Knarren der Betten, das Schnarchen und Husten, die Gänge zur Toilette, das Stolpern über Gepäckstücke. Und immer wieder die Kirchenglocke, die jede Stunde gleich zweimal einläutet. Bis 4 Uhr morgens zähle ich mit. Um 7 Uhr verkündet Hildegard energisch, die Dusche sei noch lange nicht frei. Ich verzichte lieber gleich und gehe frühstücken.

Dabei fing alles so vielversprechend an: in einer kleinen Pension im wunderschönen italienischen Städtchen Saluzzo bei hervorragendem Essen. Willi, unser Co-Guide, erwartete uns, Christel übte mit Cornelia Italienisch. „Sotto la tàvola“ haben sich alle gemerkt. „Unter dem Tisch“ endete zum Glück keiner an diesem Kennenlernabend, trotz reichlich Grappa.

Doch San Sisto ist unsere Bestimmung. Schließlich wollen wir sieben Tage lang in den italienischen Westalpen, im Piemont, wandern. Nur mit Tagesrucksack, der Rest des Gepäcks wird gefahren. Das Schulhaus von San Sisto ist seit langem unbenutzt. Im Ort wohnen außer unserer verwitweten Wirtin Barra und ihrer älteren Tante noch drei weitere Personen. Ein Blick durch die zerbrochene Fensterscheibe der Schule zeigt einen leeren Raum mit Gerümpel. Als es im Gilbatal keine Kinder mehr gab, wurde die Schule zur GTA-Unterkunft, ein pòsto tappi des Weitwanderweges „Grande Traversata delle Alpi“ (GTA). „Eine der schlimmeren“, erzählt die Wirtin beim Frühstück. Deshalb hätten sie und ihr Sohn, als er noch hier lebte, den neuen Gemeinschaftsschlafraum plus Dusche und WC gebaut. „Wanderer“, sagt sie, „kommen immer weniger hierher.“ Sie lächelt unseren Mountain-Guide und Übersetzer Gerhard freundlich an: Er bringe die meisten Gäste. „Das heißt, zweimal im Jahr höchstens 15 Leute“, kommentiert unser Wanderführer trocken.

Die touristische Bedeutungslosigkeit dieses Streckenabschnitts der GTA, der so genannten Ostroute, könnte nicht klarer umschrieben werden. Kein Wunder. Die Wanderer aus dem Norden, Südtiroler Verhältnisse gewohnt, fühlen sich hier allein gelassen, und Italiener kommen erst gar nicht auf die Idee, höhenmäßig so unspektakuläre Berge wie hier in den Cottischen Alpen zu besteigen. Nach dem Muster der französischen Grandes Randonnees wollte man das im Nachbarland so erfolgreiche Konzept großer Fernwanderwege auf italienische Verhältnisse übertragen. Doch das Ökotourismusprojekt, dessen Fäden im Turiner Büro der Associazione GTA zusammenlaufen, funktioniert auf diesem Teilabschnitt schlecht. Die Natur frisst Dörfer und Wege, frisst eine über die Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft. Wanderer werden hier zu Pfadfindern: Die alten Schmuggler- und Maultierpfade haben sich teilweise im Dickicht der Natur verloren, die Karten sind mangelhaft, und das weißrote GTA-Zeichen ist schwer zu entdecken. Kein leichter Weg für Wanderindividualisten.

Wir fühlen uns sicher. Allein die kräftigen Waden unseres Guides – er wandert fast immer in Shorts – flößen Vertrauen ein. Gerhard Fitzthum – Fitz die Wade, wie wir ihn nennen – ist promovierter Philosoph, Journalist und Reiseleiter. Seine Touren macht er „aus Lust“, aus Überzeugung und mit Engagement. Die Gegend kennt er bestens. „Wer die Situation in den italienischen Westalpen vom deutschen Standpunkt aus beurteilt und internationale Serviceansprüche erhebt, sollte besser zu Hause bleiben“, sagt er am ersten Wandertag unumwunden. Ich fühle mich ertappt. Er erklärt uns die Philosphie des GTA: „Der soziale Sinn des Weitwanderwegs ist es, die Abwanderung der Bevölkerung zu stoppen.“ Wichtig sei, dass ausschließlich Einheimische mit der Verwaltung und Pflege der Quartiere betreut sind, „damit die wenigen Gelder, dort bleiben, wo sie benötigt werden“. Die GTA soll zur Regionalentwicklung beitragen und die Verödung der Alpenlandschaft verhindern. Nur, es sind nicht viele Menschen, die bleiben und das Konzept mittragen.

„Die italienischen Westalpen sind eine von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängte Region. In den letzten 120 Jahren hat sie 70 bis 90 Prozent ihrer Bevölkerung verloren“, so Gerhard. Und im Übrigen, betont er, sei eine Unterkunft mit warmer Dusche, wie die unsere letzte Nacht, luxuriös im Verhältnis zu den harten Lebensbedingungen der Leute. Wir haben verstanden, wir sind sanfte Touristen. Wir reisen angepasst.

Auf dem Weg nach Rore, dem nächsten Etappenziel, schlagen störrische Zweige über uns zusammen, üppig wucherndes Unterholz zwingt zu Ausweichmanövern. Das Wildwandern auf matschigem Boden und durch dorniges Gestrüpp macht immer mehr Spaß. Es fordert die Sinne: den Gleichgewichtssinn, den Reaktionssinn, den Tastsinn. Im Dorf Richetta, wo fast alle Häuser leer stehen, sitzt ein verhutzelter Mann auf einem Stuhl vor dem Haus und massiert mit dem Rasierapparat seine Wangen. Eine Steckdose kann ich nirgends entdecken, das Kabel verläuft sich, doch der Apparat surrt. Strom scheint es zu geben. Zwei alte Männer und eine alte Frau mit ihrer unverheirateten Tochter sind die Einzigen, die im Dorf übrig geblieben sind. Und, wie überall, unzählige Hunde. Ein dürrer mit Glocke am Halsband begleitet uns zu unserem Rastplatz an der Kirche und wartet auf herunterfallende Brosamen. Hubert zerbröselt sein panino. Er hat ein Herz für Tiere.

Dann kommt der harte Teil des Aufstiegs. Mir scheint er unendlich. Keuchend wie eine Dampflok nähere ich mich auf pfadlosem Gelände dem Kamm. Mein Shirt ist klitschnass, mein Herz klopft bedenklich, die Wangen glühen. Gerhard doziert locker beim Aufstieg: „Diese südlichen Wegabschnitte des GTA, die weniger hoch liegende Talorte über Pass- und Wirtschaftswege miteinander verbinden, sind eigentlich die idealtypische Form des GTA.“ Genau! So habe ich es mir eigentlich vorgestellt: gut befestigte Wege der alten Bergbauernkultur, leicht zu begehen und keine Geländetouren. Ich wage nichts einzuwenden, dazu fehlt mir der Atem. Doch Gerhard schränkt, ohne auch nur einmal nach Luft zu schnappen, gleich von selbst ein: „Aber es handelt sich um einen von der Kondition her eher anspruchsvollen Bergweg, bei dem täglich 1.000 Höhenmeter überwunden werden müssen.“ Uff! Und diese 1.000 Höhenmeter müssen wir dann wieder hinunter!

Der Abstieg ins Tal führt zunächst über Almen – ein Feuersalamander lässt grüßen –, vorbei an einem verlassen Dorf, dann ein schmaler, gehfeindlicher Gerölleinschnitt. Den nehmen wir. Eine Härtetest für die Knie. Unser pòsto tappi in Rore ist dafür kein überflüssig gewordenes Schulhaus, kein unbenutztes Rathaus. Das Dorf Rore wird von einer Kooperative bewirtschaftet. Hier gibt es ein Lebensmittelgeschäft, Kunsthandwerk, Reiterhof und eine Pension. Ruhe schöpfen. Schlaf auftanken. Das üppige Menü, sieben bis neun Gänge allabendlich, selbst in der abgelegensten Herberge, befriedet obendrein: feinster Schinken, Paesto, Pasta, Gnocci, gegrillte Paprika, Salate, Hirsch, Wildschwein, Rind, Kalb, Flan, Käse, Obst in unterschiedlicher Zusammenstellung. Der Wein fördert die Kommunikation, der Grappa die Verdauung. Die kulinarischen Wunder des Piemont lassen die körperliche Anstrengung verblassen, auch figürlich.

Nach dem ersten Muskelkater wird der Blick frei für die Landschaft und ihre Eigentümlichkeiten. Ein alter, gemauerter Brunnen, ein verfallenes Backhaus, an dem noch der Brotschieber lehnt, Waschhäuser, uralte romanische Kirchen und Kapel- len. Ein Landschaftsidyll, unberührt von der Entdeckung der Alpen als Freizeitpark. Und im Hintergrund ist bei gutem Wetter stets der Monviso zu sehen. Erstklassiges Hochglanzbergpanorama!

Gehen, gehen, gehen. Eigentlich kann man sich gut daran gewöhnen. Wir wandern durch knallbunte Laubwälder und Kastanienhaine. Keine schroffen Felsen und Grate, sondern Berge der grünen, der samtenen Art. Auf schmalen Pfaden, durch verwinkelte Dörfer mit Steinhäusern, die ganz verlassen sind, halb verfallen. Nur noch eine alte Matratze, ein schiefes Bild an der Wand erinnern an menschliche Nähe. Andere Dörfer, wo der gestickte Vorhang an den neuen Fenstern eines Hauses, die Ausbesserung des Steindachs oder Blumen auf der Veranda vom Einzug einer zaghaften Feizeitkultur oder einer Rückbesinnung der Stadtflüchtlinge künden. Die Landschaft erzählt von Verlassenheit, Vergänglichkeit, und sie garantiert Stille, Dunkelheit und Einsamkeit.

Wir sind aufgehoben in der Gruppe. Hubert hat diesmal sein Herz für eine Katze entdeckt. Sie folgt ihm bedingungslos, kilometerweit. Tobias will nicht allein mit Stock wandern und bietet allen seine Schnitzkünste an. Willi, der topfitte Kopilot, erkundet flink wie eine Bergziege unwegsames Gelände. Hildegard hat immer ein Lob für ihn. Liane verteilt selbst getrocknete Birnen- und Apfelschnitze. Und Gerhard weiß stets, wo es langgeht. „Die Wege hier“, sinniert er, „haben noch menschliches Maß. Sie sind nicht für Autos gebaut. Der Weg auf der GTA öffnet ein Zeitfenster, das zugeht. Für immer.“ Es ist schön, mit einem Philosophen zu wandern!

Wir passieren das Gilbatal, das Varaitatal, das Mairatal, durch das Valle Grana bis Comboscuro. In Bellino, unserer dritten Tagesetappe, sprechen alle Französisch, denn hinter dem nächsten Pass liegt Frankreich. Das Örtchen Elva hat eine Bilderbuchlage, eine Kirche und Gnocci vom Feinsten. Eine Nacht im Schulhaus von Cella Magra lässt die Mäuse tanzen. In den eiskalten Zellen des Klosters San Magno hilft dann nur Grappa. Und abenteuerlich lang ist der Pilgerweg nach Comboscuro, wo uns der Lehrer Sergio Arneodo im „Centre Provençal“ eine Geschichte auf Okzitanisch erzählt. Gerhard streut unterwegs immer wieder Wissenwertes ein: über die freiheitsliebendenen Bauern des Bundes von Briancon, über die Waldenser, über okzitanische Kultur und die Lebensverhältnisse vor Ort. Wir hören ihm gerne zu. Ganz nebenbei rettet er zusammen mit ein paar Hirten eine Ziege, die, verfolgt von hungrigen Wölfen, in den Abgrund gesprungen war. Geschichten und Geschichte eines gelungenen Stücks des Weges.

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