: Im Labyrinth der U-Bahnen
Die Geheimnisse von Berlin: Wo ist das Westberlin der ersten Klassenfahrt geblieben? Und was ist aus der Hinterhofromantik der Nachwendezeit geworden? Eine autobiografische Spurensuche
von SUSANNE MESSMER
Früher, als der Potsdamer Platz noch eine Wiese war, der Osten noch grau in grau, als Mitte noch ganz schön alt aussah. Als die BVG noch bezahlbar war und trotzdem jeder schwarzfuhr, als die Züge in den Westen noch langsam und voll waren. Wer nicht aufpasste, konnte leicht in Baulöcher fallen oder eine Bohle vom Baugerüst abbekommen. Am Kollwitzplatz gab es noch selbst gemachte Kneipen ohne sanitäre Anlagen. Die Hackeschen Höfe waren eine Entdeckung, weil sich dorthin kein Tourist verirrte. Friedrichshain war nicht gefährlich, sondern wild.
Da war Berlin noch gut für Mysterien. Wie peinlich: Für skeptischen Westbesuch suchte ich immer geheimnisvolle Orte, um zu beeindrucken und für meinen neuen Wohnort zu werben. Ich fand den pittoresken Hinterhof mit Steinbockskulptur und Amphitheater Ecke Oderberger/Kastanienallee. Überhaupt Berliner Hinterhofromantik: Der engste in der Metzer, der dunkelste in der Knaack, der bunteste in der Sonntagstraße. Was von außen viel versprechend aussah, wurde inspiziert. Ich dachte viel über unsprengbare Bunker nach. Gut, dass mich niemand sah, als ich eine Führung der Bewag durch stillgelegte Abwasserkanäle mitmachte.
Wenig ratsam erschien es mir damals, das Haus auch nur zum Zeitungskauf ohne Stadtplan zu verlassen. Beim lästigen Kohlenholen verhob ich mir oft das Kreuz und hatte immer Angst vor Leichen im Keller. Manchmal nahm ich die Zitty, fuhr mit dem Finger blind über die Ausgehtipps und ging dann irgendwohin, wo es furchtbar langweilig war. Oft träumte ich von einem geheimnisvollen Tor in eine andere Welt, in eine verwinkelte, mittelalterliche Stadt mit schmalen Gässchen und runden Plätzen um alte Kirchen. Und lief mir dann die Hacken wund, weil ich das Berliner Hausnummernsystem nicht verstand.
Ich suchte damals das Westberlin meines ersten Berlinbesuchs, auf Klassenfahrt Ende der Achtziger. In Kreuzberg verlief ich mich, oft fuhr ich mit der U-Bahn in die falsche Richtung. Die grauenvollste Kneipe Berlins, das „Klo“, wo wir unser kleines Bier mutig im aufgestellten Sarg und auf Kirchenbänken zu uns nahmen: Was ist aus ihr geworden? Und was aus dem „Linientreu“? Denkt noch jemand an Christiane F., wenn er am Zoo mit dem Zug ankommt? Und gibt es eigentlich noch diesen Secondhandladen, wo es nach Gewicht geht, zu dem man kommt, wenn man am Nollendorfplatz in die andere Richtung geht? Das ganz besondere Nordseekrabbenbrötchen im KaDeWe, die billigste Bude der Stadt, neunzig Pfennig die Fritten? Gibt es das alles noch? Geht man da noch einkaufen mit Tante Lisbeth aus Paderborn, oder geht man mit ihr jetzt nur noch zum Potsdamer Platz?
Mein Leben ist anders geworden seitdem, und das schon länger, als mir lieb ist. Inzwischen sind alle Hinterhöfe gelb. Die Wege sind kürzer geworden und haben sich entwirrt, Bonn wohnt jetzt hier und viel ARD und ZDF und Frühstücksfernsehen. Selbst der Ku'damm verliert seinen Schmuddelcharme und wird langsam schick, und im Osten sind bald alle Löcher zugespachtelt. Das Acud konnte sein Haus nicht kaufen und muss vielleicht bald raus. Die Kulturbrauerei ist schon lang keine Ruine, und im engen „Loft“ gibt es keine Konzerte mehr. Ins „Maria am Ostbahnhof“ nimmt man sich immer öfter vor zu gehen und bleibt dann doch zu Hause. Ersatz ist nicht in Sicht.
Nichts scheint mehr übrig geblieben zu sein von der kitschigen Seifenblase, Berlin könnte wenigstens ein klitzekleines Bisschen so sein wie die rätselhaften Städte Italo Calvinos, in die Männer kommen und die Frau ihrer Träume suchen. Um sie zu finden, baut jeder der Männer die Wege nach, die er ihr im Traum folgte. Die Wege verstricken sich und die Stadt wird immer undurchsichtiger. Und die Frau bleibt verschwunden auf ewig.
Obwohl, vielleicht sind die alten Geheimnisse nur anders geworden. Neulich zum Beispiel: Sicher ein Jahr lang habe ich geschimpft, dass es in meiner Gegend keine guten Plattenläden mehr gibt. Und dann meinen liebsten, geschlossen geglaubten wiedergefunden, weil er eine Straße weiter links war als zwischenzeitlich angenommen. Der orange Hinterhof zwischen der Greifswalder und Prenzlauer war auch kurz aufgetaucht, ist jetzt aber wieder weg. Und kann mir mal jemand sagen, wo diese tolle Eisdiele am Görlitzer Park jetzt ist? Wo es für wenig Geld das feinste Eis der Welt gab? Mit frischen Butterwaffeln? Hab’ ich seit Ewigkeiten nicht wiedergefunden.
Seit drei Jahren steige ich am Alex sehr umständlich vom Bus in die U-Bahn um. Vor dem nächstliegenden Eingang hat mich mal jemand gewarnt, der meinte, durch diesen Einstieg verirre man sich in den labyrinthischen Schächten. Letzte Woche habe ich dann doch mal diesen Weg gewählt – und kam direkt vor meiner Bahn an.
Ofenheizung hab’ ich aber noch. Es ist billiger, sich die Kohlen in die Wohnung schleppen zu lassen als sich eine Wohnung mit Heizung zu leisten. Am Tag, als der Hunderter seine neue Busstation „Nordische Botschaften“ bekam, habe ich um die Ecke der Schönhauser Allee die Esplanade entdeckt – ein Niemandsland zwischen Pankow und Prenzlauer Berg. Da gibt es leer stehende Bungalows, Plattenbauvillen voller Sehnsucht nach sozialistischer Großbürgerlichkeit. Dort hatten vor der Wende Länder wie der Libanon ihre Botschaften. Will da nicht mal jemand eine neue Bar aufmachen? Direkt nebenan gibt es die Kleingartenkolonie Bornholm II. Von da könnte man sich prima Obst- und Südfrüchte für Cocktails holen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen