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Eine verschenkte Chance

Die im Eiltempo ausgearbeitete EU-Grundrechtecharta erfüllt die in sie gesetzten Erwartungen nicht. Für die Menschenrechte ist das Dokument ein Rückschritt

Einschränkungen im Sozial- und Asylrecht werden sich negativ auf internationale Standards auswirken

Noch in diesem Jahr, beim EU-Gipfel in Nizza im Dezember, soll die europäische Grundrechtecharta feierlich verkündet werden – als Auftakt und Weichenstellung einer Debatte über die zukünftige politische Verfasstheit der EU. Doch der Text, den das Konvent unter Leitung Roman Herzogs und vor allem auf Initiative der deutschen Bundesregierung erarbeitet hat, bleibt sogar hinter den Zielen zurück, die die deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin im April 1999 formuliert hatte. Von den Forderungen der Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen ganz zu schweigen.

Tatsächlich ist die Grundrechtecharta in der vorliegenden Form eine Untermauerung des ungebremsten Wirtschaftsliberalismus. Die restriktive Ausgestaltung der sozialen Rechte stellt die Unteilbarkeit bürgerlicher, politischer und sozialer Menschenrechte in Frage. Die Weiterentwicklung des Menschenrechtsstandards und der Bürgerbeteiligungsverfahren auf EU-Ebene wurde versäumt. Ohne Rechtsverbindlichkeit und rechtliche Ausgestaltung des Verfahrenswegs bleibt die Grundrechtecharta symbolische Politik.

Bislang sind etwa die Grund- und Menschenrechte der EU-BürgerInnen über die nationalstaatlichen Verfassungen und internationale Konventionen gesichert. Durch die Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die EU haben sich jedoch Lücken im Rechtsschutz entwickelt, weil die neu geschaffenen EU-Organe vielfach weder von Gerichten noch vom Europäischen Parlament effektiv kontrolliert werden. Besonders einschneidend sind die engere staatliche Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres bei der gemeinsamen Polizeibehörde Europol, bei der Asyl- und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei nutzt es auch nichts, dass sich die europäischen Verträge auf die internationalen Menschenrechtsübereinkommen beziehen, weil im Streitfall der Verfahrensweg ungeklärt ist.

Die Grundrechtecharta arbeitet im Prinzip die bestehenden Rechte der BürgerInnen gegenüber den Gemeinschaftsorganen auf und formuliert ein gemeinsames Grundrechtsverständnis. Das könnte die bestehenden Rechtslücken schließen und den Schutz vor Eingriffen von EU-Institutionen in Grundrechte stärken. Tatsächlich jedoch ist die Charta nur eine „Proklamation“ mit Selbstbindungswillen, die rechtlich unverbindlich bleibt und kaum praktische Auswirkungen haben wird. Um Rechtswirksamkeit zu erlangen, müsste die Charta erst in die Gemeinschaftsverträge aufgenommen werden – und ob das passiert, ist derzeit noch völlig offen.

Ohne effektiven Rechtsschutz aber gibt es keine Garantie für die Rechte des Einzelnen. Gerade angesichts der Tatsache, dass in der EU die Exekutive eine so weitgehende Rechtsetzungskompetenz genießt und dass eine Kontrolle durch demokratisch legitimierte Organe eher indirekt geschieht, wäre es wünschenswert gewesen, Rechte in der Charta zu verankern, die dem Europaparlament, den einzelstaatlichen Parlamenten oder auch den BürgerInnen die Möglichkeit geben würden, eine Art Normenkontrollverfahren einzuleiten. Die Ausgestaltung des Artikels 52 der Charta, der die Frage regelt, unter welchen Bedingungen in der Charta verankerte Rechte eingeschränkt werden dürfen, ist dazu völlig unzureichend.

Ein effektiver Rechtsschutz erfordert mehr als eine Generalklausel, mindestens eine präzise und justiziable Schrankensystematik, die die Bedingungen und Abstufungen erlaubter Grundrechtseingriffe definiert. Diese Mängel wiegen umso schwerer, wenn man die Charta als Prototyp einer zukünftigen Verfassung erachtet.

Die Europäische Union brachte ihren BürgerInnen die so genannten vier Grundfreiheiten als Wirtschaftssubjekte: freien Personenverkehr, freien Dienstleistungsverkehr, freien Warenverkehr und freien Kapitalverkehr. Die politische und soziale Integration blieb dahinter weit zurück – und auch die Grundrechtecharta entwickelt die Unionsrechte gegenüber den bestehenden EG-Verträgen kaum weiter. Im Vergleich zum gegenwärtigen völkerrechtlichen Menschenrechtsstandard fällt die Charta sogar zurück.

So findet sich etwa weder im unpassenderweise „Solidarität“ überschriebenen Kapitel IV noch an anderer Stelle der Charta eine Normierung des Sozialstaatsprinzips, wie sie etwa in den Artikeln 20 und 28 des deutschen Grundgesetzes festgeschrieben ist. Diese Abstinenz passt zu den konkreten Aussagen des Entwurfs. Den Lohnabhängigen wird darin zwar ein Recht auf Information und Konsultation im Rahmen von Unternehmen zugebilligt, ein Recht auf Mitbestimmung ist aber nicht vorgesehen. Statt eines Rechts auf Arbeit, wie es die Europäische Sozialcharta garantiert, sieht der Entwurf in Artikel 15 ein Recht zur Arbeit vor.

Die Asymmetrie zu Gunsten der Unternehmer wird besonders an der Regelung der Eigentumsfrage deutlich. Anders als das Grundgesetz kennt der Entwurf keine Ermächtigung zur Sozialisierung – im Gegenteil statuiert Artikel 16 ein Grundrecht auf unternehmerische Freiheit. Und während das Grundgesetz für den Fall einer Enteignung im öffentlichen Interesse eine Entschädigung unter gerechter Abwägung der Interessen vorsieht, garantiert die Charta eine angemessene Entschädigung, faktisch zum Marktwert.

Dem gegenwärtigen politischen Trend entsprechend fordert der Entwurf kein öffentliches System der Sozialversicherung. Auch enthält er keinen Maßstab dafür, welche Mindestleistungen geboten sind. Damit fällt der Entwurf hinter den auch von der Bundesrepublik ratifizierten Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus dem Jahre 1966 weit zurück, in dem die Vertragsstaaten das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard anerkennen.

Auffällig ist, dass die sozialen Grundrechte im Wesentlichen als allgemeine Sicherstellungsprinzipien im Rahmen der EU-Mitgliedstaaten gefasst wurden – und nicht als Individualrechte. Einzig die Situation der MigrantInnen aus Drittstaaten mit einer Arbeitserlaubnis verbessert sich, weil sie künftig in allen Mitgliedstaaten Arbeit aufnehmen dürfen. Allerdings werden MigrantInnen auch verstärkt von der Reduzierung der sozialen Rechte betroffen sein.

Bisher ist die Grundrechtecharta eineUntermauerung des ungebremsten Wirtschaftsliberalismus

Maßgeblich für den Schutz der internationalen Menschenrechte ist das Recht auf Asyl, das jede und jeder in Anspruch nehmen kann, deren Menschenrechte in ihrem Herkunftsland verletzt werden. Die Grundrechtecharta macht den Flüchtlingsschutz mangels Individualanspruch und Rechtswegegarantie allein vom politischen Willen der Regierungen abhängig – ein weiterer Rückschritt. Es ist zu befürchten, dass die Einschränkungen der Sozialrechte und des Asylrechts nicht nur Auswirkungen auf die EU, sondern auch negative Wirkung auf den internationalen Menschenrechtsstandard haben werden.

Gleichzeitig wurde auch versäumt, die Grundrechte weiterzuentwickeln und den gesellschaftlichen und technischen Veränderungen anzupassen – etwa durch die Formulierung eines Rechts auf Mobilität oder auf Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln. Auch um die Frage eines ethischen Umgangs mit der Gentechnologie hat sich der Konvent schlichtweg gedrückt. Die Forderung nach stärkeren Gestaltungs- und Mitwirkungsrechten der EU-BürgerInnen blieb ebenfalls unberücksichtigt.

So ist die Grundrechtecharta in ihrer vorliegenden Form, auf deutsches Betreiben hin im Eiltempo erarbeitet, vor allem eine verschenkte Chance, auch für die Entwicklung einer europäischen Identität. Soll die EU wirklich mehr sein als eine Zweckgemeinschaft, so müssen sich die EU-BürgerInnen in einer breiten öffentlichen Debatte über Inhalte, Ziele und Werte sowie über Zukunft und Perspektiven eines europäischen Zusammenlebens verständigen. Die Grundrechtecharta könnte hierfür ein verbindender Bezugspunkt sein. Gleichzeitig würden die EU-Institutionen an Akzeptanz gewinnen, wenn die BürgerInnen wüssten, dass sie als Individuen ernst genommen und ihre Rechte geschützt werden.

Die Chance, die Legitimation der EU-Politik zu erhöhen, wird gerade verspielt, wenn die EU-BürgerInnen die Charta zwar diskutieren dürfen, aber an der Fassung nichts mehr verändert werden kann. Selbst eine EU-weite Volksabstimmung über die Grundrechtecharta ist nicht vorgesehen. So gerät die nun von PolitikerInnen propagierte breite öffentliche Debatte in den Verdacht eines Werbefeldzugs für ein minderwertiges Produkt. Demokratie wird in der EU weiter klein geschrieben. BIRGIT ERBE

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