Auch die Enkel brauchen Therapie

Selbst wenn es viele nicht wahrhaben wollen: Die psychischen Folgen des Schoah-Traumas belasten sogar die Kindeskinder der Holocaust-Opfer. Häufig sind Beziehungsprobleme mit den Eltern. Eine Gruppe jüdischer Therapeuten versucht zu helfen

von PHILIPP GESSLER

Ganz schlimm war es Anfang der Neunzigerjahre: Als in Rostock-Lichtenhagen der Mob ein Asylbewerberwohnheim unter Beifall und Gejohle anzündete, färbte sich eine Patientin von Anath Sieff die schwarzen Haare von einem Tag auf den anderen blond. Die Holocaust-Überlebende wollte nicht als Jüdin erkannt werden – und die Psychotherapeutin Sieff diagnostizierte eine Retraumatisierung der alten Dame. Jahrzehnte nach der Schoah und obwohl keine unmittelbare Gefahr für sie bestand.

Dass Überlebende des Massenmords an den europäischen Juden auch fünfzig Jahre nach der Verfolgung mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, ist erwartbar. Auch von seelischen Schwierigkeiten ihrer Söhne und Töchter ist immer mal wieder zu lesen, denn das Trauma ihrer Eltern müssen nicht selten auch ihre Kinder auf die eine oder andere Weise erst verarbeiten. Anath Sieff aber hat in ihrer Praxis in Charlottenburg Patienten, die zu den Enkeln der Opfer der Schoah gehören – und auch zwei Generationen nach den schrecklichen Erfahrungen ihrer Großeltern immer noch unter den psychischen Folgen dieser Traumata zu leiden haben: Selbst die so genannte „dritte Generation“ schleppt die schwarze Vergangenheit mit sich herum.

In einem gemütlichen Korbsessel sitzend, versucht die gebürtige Israelin in ihrer Altbauwohnung, zur Verarbeitung dieser Schwierigkeiten der Opfer-Nachfahren durch eine familientherapeutische Behandlung beizutragen. Zusätzlich hat sich Anath Sieff hat mit drei anderen Berliner Psychotherapeuten zu einer informellen Gruppe zusammengefunden, die sich regelmäßig zum Erfahrungsaustausch, zur „Intervision“, trifft – eine Gemeinschaft, die ihresgleichen sucht. Denn die Psychologen, alle jüdischer Herkunft, haben sich auf die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Enkeln von Schoah-Opfern spezialisiert. Und sie machen in den vergangenen Jahren stets die gleiche Erfahrung: Selbst der Enkelgeneration der in der NS-Zeit verfolgten Juden hat unter den Spätfolgen des Schoah zu leiden – auch wenn sie sich in der Regel nicht so offensichtlich äußern wie in der Blondierung von Haaren.

Da war etwa die 17-jährige Patientin, deren Oma im Konzentrationslager überlebte. Ihre Mutter, die zunächst in der UdSSR, später in der DDR lebte, hatte unter einem typischen Problem der „zweiten Generation“ zu leiden: Ein Zuviel an liebevoller Umklammerung, die viele Holocaust-Überlebende ihren Söhnen und Töchtern angedeihen ließen – waren doch die Kinder ein Hauptgrund dafür, dass es sich nach dieser Katastrophe überhaupt noch zu leben lohnte. Eine fast „symbiotische Beziehung“ entwickelte sich zwischen der Holocaust-Überlebenden und ihrer Tochter – und selbst die 17-jährige Enkelin litt noch darunter. Auch wenn sich die Mutter der 17-Jährigen vornahm, es besser zu machen: Sie fand nicht die Balance zwischen Freiheit und Nähe für ihr Kind.

Es sind diese indirekten Spätfolgen des Schoah-Traumas, die Anath Sieff und ihre Kollegen an ihren Patienten der „dritten Generation“ zu behandeln haben: Die Enkelgeneration ahne häufig nur, dass ihre psychischen Probleme letzlich ihren Ursprung im Leiden ihrer Großeltern haben, berichtet Anath Sieff. Manchmal sagten die Patienten sogar: „Das hat damit nichts zu tun.“ Oft erst im Laufe der Behandlung komme dann der wahre Hintergrund der Beschwerden ans Licht, die den Gang zum Psychotherapeuten anregten. Die Psychologin ist sich sicher: Wer bewusst – wie ihre Patienten – Hilfe von einem Gegenüber jüdischer Herkunft suche, wisse unbewusst, dass die Probleme in lebensbedrohlichen Erlebnissen ihrer Großeltern begründet sein könnten.

Diese Erfahrungen bei der Arbeit mit der „dritten Generation“ hat auch Christian Staffa gemacht. Der Theologe leitet das Büro von „Aktion Sühnezeichen“ in Berlin und hat bereits mehrere Begegnungsprogramme zwischen nichtjüdischen Deutschen und jüdischen Jugendlichen vor allem aus den USA organisiert. Das Besondere daran: „Im weitesten Sinne“ seien dies Nachkommen von Schoah-Opfern auf der einen und Nazi-Tätern auf der anderen Seite. Staffa bemerkt bei seinen jungen Leuten, dass die Schoah noch immer ein „gegenwartsprägendes Motiv“ sei. Da sei etwa eine junge Jüdin aus einem scheinbar unproblematischen und wohlhabenden Milieu in Kalifornien gewesen, die 50 Jahre nach dem Holocaust absolut nicht mit dem guten Lebensstandard in Deutschland, dem Land der Täter, zurechtgekommen sei: In einer Debatte habe sie ausgerufen, es kotze sie an, dass Deutschland so reich sei. Das trieb sie „emotional zum Wahnsinn“, sagt Staffa. Es habe bei der jungen Frau „eine Tradierung des Traumas“ stattgefunden.

Und dies betrifft womöglich nicht nur die Nachkommen der Opfer. In der Fachliteratur, so der Wissenschaftler, werde von manchen Gelehrten auch die Ansicht vertreten, dass auch die Kinder und Enkel der Täter durch die Untaten ihrer Großeltern traumatisiert seien. Wie bei Schoah-Opfern nagten diese Familien manchmal über Generationen daran, dass ihre Vorfahren zu ihren Erfahrungen in der NS-Zeit nichts berichten wollten – mit einem Unterschied: Ein „Schweigen“ sei dies bei den jüdischen Opfern, ein „Verschweigen“ bei den deutschen Tätern.