Demonstrieren reicht nicht

Am heutigen 9. November im breiten Bündnis für Menschlichkeit und Toleranz marschieren?Andreas Nachama, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, der grüne Abgeordnete Özcan Mutlu und Ralf Fischer vom Antifa-Aktionsbündnis III diskutieren über Angst, Antifaschismus, den Nährboden für rechte Gewalt – und den Sinn und Unsinn der umstrittenen Großdemonstration

Das Gespräch führten SABINE AM ORDE
und UWE RADA

taz: Am Wochenende fand in Berlin die größte Neonazi-Demo dieses Jahres statt. Wie fühlen Sie sich, Herr Nachama?

Andreas Nachama: Man muss nicht alles wahrnehmen, was in dieser Stadt passiert. Ich hab das nicht wahrgenommen.

Warum nicht?

Nachama: Weil ich das nicht wahrnehmen muss.

Özcan Mutlu: Es ist natürlich ein Problem, wenn solche Leute das Demonstrationsrecht benutzen, um gegen andere Menschen zu hetzen. Da muss die Demokratie so stark sein, um diesen Tendenzen entgegenzutreten.

500 Gegendemonstranten entsprechen nicht gerade dem Bild einer starken Demokratie. Warum haben so wenige gegen die Nazis protestiert?

Ralf Fischer: Die Zahl der Gegendemonstranten ist rückläufig. Auch weil Naziaufmärsche in Berlin zur Normalität geworden sind.

Trotz der Sensibilisierung für dieses Thema?

Fischer: Ich glaube nicht, dass es in den letzten Monaten eine wirkliche Sensibilisierung gegeben hat. Einige wenige, die vorher ein bisschen aufgegeben hatten, schöpfen wieder mehr Mut. Aber ich sehe jetzt die Demokraten nicht unbedingt aus dem Boden sprießen.

Mutlu: Ich habe auch das Gefühl, dass diese Debatte auf eine gewisse Art und Weise eine Scheindebatte ist. Wenn man sich anschaut, was seit dem Anschlag in Düsseldorf passiert ist, die Diskussion über den Rechtsextremismus, über das Verbot der NPD und seit neuestem über die deutsche Leitkultur, macht das deutlich, dass die Sensibilisierung so ernsthaft nicht gewesen sein kann. Mit derartigen Diskussionen schaffen wir ja gerade erst den Nährboden für das braune Gedankengut.

Herr Nachama, finden Sie auch, dass Neonazi-Demos längst Normalität sind?

Nachama: Erstens denke ich nicht, dass sie Normalität sind. Ich bin aber auch gar nicht bereit, mich daran zu gewöhnen, dass solche Firmen – das sind ja gar keine Parteien – durchs Brandenburger Tor ziehen. Gleichwohl denke ich, dass man sich von denen auch nicht aufzwingen lassen soll, wann und wo man Flagge zeigt. Diese Gesellschaft, wir, nämlich die Mehrheit, definiert das selbst. Sie hat es jetzt zum Beispiel so definiert, dass sie am 9. November Flagge zeigt.

Mutlu: Unter einem solchen Motto „Für Toleranz und Menschlichkeit“ hatten wir ein ähnliches Bündnis schon lange nicht mehr. Das ist sehr gut und unterstützenswert. Aber man muss auch bestimmte Dinge hinterfragen. Wie ernst ist es der CDU, wenn sie gleichzeitig die deutsche Leitkultur propagiert?

Nachama: Ich finde, deutsche Leitkultur könnte ja auch Toleranz und Mitmenschlichkeit sein. Der Begriff ist ja inhaltlich gar nicht gefasst. Einen Tag wird er in die Debatte gebracht, am andern ist er wieder draußen.

Zwischen der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und Paul Spiegel, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, war vereinbart, den Begriff nicht mehr zu verwenden. Die CDU benutzt ihn aber weiter. Wie glaubwürdig ist die Union, wenn sie auch zur Demo aufruft?

Nachama: Man kann offenbar vorhandene Tendenzen nicht unter den Tisch kehren, indem zwei Leute etwas vereinbaren. Da gibt es in der CDU Diskussionsbedarf. Ich selbst finde den Begriff sehr problematisch. Es kommt aber auch darauf an, wie man Begriffe mit Inhalten füllt. Vielleicht müssen solche Debatten auch geführt werden. Ich bin aber sicher, dass das, was am Ende dabei herauskommt, etwas ist, was dieses Land endlich mal ein Stück weiterbringt.

Woher der Optimismus? Der designierte CDU-Generalsekretär Meyer meint, man müsse auch sagen dürfen: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Bundesinnenminister Otto Schily sagt, das Boot sei voll, und meint, das Asylrecht müsse geändert werden. Ist es nicht schwierig, mit diesen Personen für Toleranz und Menschlichkeit zu demonstrieren?

Nachama: Gerade nicht. Ich finde es schlimmer, wenn Leute wie der Brandenburger Innenminister Schönbohm sagen, er hätte Besseres zu tun, als zu einer solchen Demonstration zu gehen. Daran sieht man, dass der immer noch General ist und noch nicht in der Politik angekommen ist. Denn Politik besteht darin, in der Öffentlichkeit Zeichen zu setzen. Ich denke, die Manifestation am 9. November ist eben gerade die Chance, sich aller zu vergewissern, zu zeigen, dass das, was im Grundgesetz steht – die Würde des Menschen – etwas ist, was die Menschen zusammenbringt.

Herr Mutlu, die Grünen haben Äußerungen wie von Herrn Meyer und Herrn Schily scharf kritisiert. Wie geht es Ihnen mit der Demo am 9. November?

Mutlu: Ich denke schon, dass die CDU auch in die Pflicht genommen werden muss. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass bestimmte Kreise eine Debatte führen, die nicht nur um die Leitkultur geht, sondern auch immer wieder nach Schuldigen sucht. Was ich mir aber wünsche, ist, dass diese Demonstration nicht endet wie die Lichterketten Anfang der 90er-Jahre: Viele Menschen waren auf der Straße, jeder hat sein Gewissen beruhigt, und dann geht wieder jeder in seine Stube. Vielmehr muss es endlich wieder möglich sein, dass die Einwanderer in andere Teile der Republik gehen können, ohne Angst um ihr Leben haben zu müssen. Da reicht es natürlich nicht aus, den deutschen Pass zu bekommen. Wenn ich in Brandenburg bin, fragt mich ein Skinhead nicht, ob ich einen deutschen Pass habe. Aber wenn wir weiter die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändern, etwa durch ein Antidiskriminierungsgesetz, werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen den rechtlichen und politischen einmal folgen.

Fischer: Das Problem in Brandenburg geht ja noch viel weiter. Da werden ja nicht nur Migranten angegriffen, sondern auch jüdische Mitbürger, so genannte Assis oder Penner, auch Linke wie vor kurzem in Finsterwalde. Die Frage, die sich stellt, ist doch auch, wie wir dagegen vorgehen. Das Problem am 9. November wird sein, dass es meines Erachtens ein Abklatsch der Lichterketten von 1992 sein wird. Damals haben 300.000 demonstriert. Diesmal werden es vielleicht mit Ach und Krach 100.000 Menschen sein. In Deutschland leben aber 80 Millionen. Und die CDU-Mitglieder werden, trotz des Aufrufs ihrer Partei, nicht kommen. Die Mehrheit der SPD-Mitglieder wird auch nicht da sein.

Auch die Antifas nicht.

Fischer: Das stimmt. Wir werden an diesem Tag in vielen Bezirken präsent sein. Es gibt eine Veranstaltung in Hohenschönhausen, in Moabit wird bereits seit zehn Jahren eine Demonstration am 9. November durchgeführt. Dort werden die Antifas zu sehen sein, und ich glaube auch, dass einige wie 1992 versuchen werden, an diesem Tag deutlich zu machen, dass es Politiker gibt, die ihr Gewissen beruhigen wollen, aber in Wirklichkeit kein Interesse an einem Einwanderungsland haben und kein Interesse, die rassistische Stimmung in der Bevölkerung zu bekämpfen.

Werfen Sie auch den Menschen, die am 9. November zu der Großdemo gehen, vor, nur ihr Gewissen zu beruhigen?

Fischer: Ich will denen, die demonstrieren gehen, keine Heuchelei vorwerfen. Die Menschen auf der Straße nutzen ihr Recht, ihre Meinung zu demonstrieren, und das ist auch bitter nötig. Mir wäre es aber lieber gewesen, wenn sie etwa am Wochenende den Nazis nicht das Feld überlassen hätten. Wenn da 10.000 Menschen gewesen wären, hätte die Polizei den Nazis bestimmt keine Bresche geschlagen.

Nachama: Ich sehe das nicht so. Ich sehe nicht, dass die Auseinandersetzung mit einer Firma wie der NPD auf der Straße stattfinden muss.

Fischer: Nicht nur. Das Problem muss auch durch eigenes Handeln, durch Eigeninitiativen in den Bezirken, im Wohnumfeld, bei der Arbeit bekämpft werden.

Mutlu: Natürlich reicht eine Demonstration nicht aus, aber sie stärkt die Positionen der Betroffenen. Dann wird sich vielleicht auch die Mehrheit der Gesellschaft einmal damit abfinden, dass sie multikulturell ist. Dann wird auch Tante Erna aus Buxtehude, wenn sie einen schwarzen Nachrichtensprecher im Fernsehen sieht, akzeptieren, dass sich dieses Land verändert hat.

Fischer: Dafür ist Bildung aber wichtig. Die Bundesregierung hat 75 Millionen Mark für Anti-Rechtsextremismus-Projekte angekündigt. Gleichzeitig streicht der Berliner Senat die gleiche Summe für Bildungsprojekte . . .

Mutlu: . . . 100 Millionen sind gestrichen worden.

Fischer: Wer im Bildungsbereich kürzt, zeigt, dass alles Heuchelei ist. So werden wir den Nährboden nicht wegkriegen.

Herr Nachama, in der letzten Zeit, besonders nach dem Anschlag in Düsseldorf, war in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland viel von Angst die Rede. Wie wichtig ist die Demonstration für das Lebensgefühl der Juden in Deutschland?

Nachama: Die Gefühle, die die jüdische Gemeinschaft in Deutschland all dem entgegenbringt, was in den letzten zehn Jahren geschehen ist – und das würde ich nicht auf die antisemitischen Vorfälle beschränken wollen, nicht nur auf Sachsenhausen, sondern auch auf Hoyerswerda und Mölln oder die, die in Brandenburg krankenhausreif geschlagen wurden –, das hat zu einer Situation geführt, wo ganz selbstverständlich gesagt wird, ein Ausflug nach Potsdam muss vielleicht nicht unbedingt sein. Wer wird uns schützen? Das ist am Ende ja ein riesiges Armutszeugnis für die Bundesrepublik. Ich glaube nicht, dass die Manifestation am 9. November so etwas ausräumen kann.

Heißt das, diese Demonstration ist für die jüdische Gemeinschaft nicht wichtig?

Nachama: Das habe ich so nicht gesagt. Ich denke, für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist es wichtig, dass ein solcher Tag wie der 9. November Ausgangspunkt für eine solche Reflexion ist. Dass man auf der einen Seite der Tragik des 9. November gedenkt und auf der anderen Seite es eben nicht bei dem Gedenken bewenden lässt, sondern den Blick auf die Gegenwart richtet und dass dabei tatsächlich von Herrn Stoiber bis zum Bundeskanzler diejenigen dabei sind, die das politische Spektrum der Republik repräsentieren. Das ist etwas, was der jüdischen Gemeinschaft schon wichtig ist.

Herr Fischer, Herr Nachama sagt, dass diese Manifestation als Zeichen wichtig ist. Ist es da nicht schwierig, sich an diesem Zeichen nicht zu beteiligen?

Fischer: Wir haben unsere eigenen Aktionen an diesem Tag, und das schon seit elf Jahren.

Nachama: Das ist auch vollkommen okay.

Wann wird der 9. November ein Erfolg sein?

Fischer: Für uns ist jede spürbare Zunahme an antirassistischen Aktivitäten begrüßenswert, dabei ist es aber unwichtig, an welchem Tag das stattfindet. Wichtig wäre deshalb, dass das ganze Jahr über jeder Politiker und jeder Mensch, der hier lebt, angehalten ist, darüber nachzudenken, wie sein Handeln wirkt.

Nachama: Dieser 9. November 2000 hat eine Chance, etwas zu verdeutlichen, was nach meinem Dafürhalten in den ersten Seiten des Grundgesetzes steht. Einmal antifaschistisch im Sinne des „Nie wieder“. Das zweite ist das humanistische Element dieser Republik. Die Gleichheit aller, die Religionsfreiheit, der Respekt vor dem Anderen. Wenn sich die Republik und alle, die in ihr etwas bewirken können, zusammen mit einer größeren Zahl dies noch einmal manifestieren, dann sind die paar hundert, die sich an irgendeiner Stelle, an irgendeinem Tag vor dem Roten Rathaus formieren, da, wohin sie gehören: im Aus.

Mutlu: Nach dem 9. November wird die Republik keine andere sein. Da bin ich etwas pessimistischer. Aber dennoch ist ein so breites Bündnis schon ein Erfolg. Wenn die politische Klasse da ist, auf die ja viele Menschen hören, hat das Signalwirkung. Ob da 100.000 oder 200.000 sind, ist nicht so relevant.