: Begehrlich fließen
„S“ kommt von Schönheit: Das neue Stück von Sasha Waltz an der Berliner Schaubühne
Was wäre, wenn Eva im Paradies keinen Appetit auf Äpfel verspürt hätte? Lässt sich die Geschichte der Liebe noch einmal neu erfinden ohne den Ballast von Mythen und Klischees? Kann man noch einmal von vorn beginnen mit dem Prozess der Erkenntnis?
Hände, die sanft der Biegung einer Wirbelsäule folgen, übernehmen den Anfang dieser Aufgabe in „S“, einer neuen Choreografie von Sasha Waltz. Erkundet werden Rücken, Rippen, Hüften, Gesäß und Muskeln eines Mannes, der nackt und ausgestreckt auf dem Bühnenboden liegt, vielleicht schlafend, vielleicht träumend. Es ist dabei so still im Theater, als ob das Publikum die Luft anhielte. Dabei möchte man schnurren wie eine Katze, der das Fell gekrault wird. Denn „S“ ist nicht nur ein Stück über die Liebe, sondern vor allem ein liebevolles Stück, bei dem einem wohl werden kann wie lange nicht mehr.
Männer und Frauen schieben sich aus Spalten und Ritzen hervor, wie bei einer Neugeburt der Menschheit oder der Wiederauferstehung des Fleisches. Die Landschaften, die Waltz mit ihren acht mutigen Tänzern aufsucht, erinnern an mittelalterliche Gemälde, die Anfang und Ende der Zeiten zusammenbanden. Giraffen und Nashörner laufen durch das Bild, mit Licht auf die Leinwand im Hintergrund projiziert. Ein höfisches Fräulein in Fleisch und Blut, mit Reifrock und gezwirbeltem Haar, schreitet zwischen den Beinen der Giraffe. Sie wird, ganz am Ende, mit Milch übergossen, gebadet, getauft vielleicht. Lange davor stehen sich einmal Männer und Frauen als Mannschaften gegenüber, die sich anstacheln, balzen, provozieren, konkurrieren, umwerben, locken, anbrüllen und veralbern. Der Geschlechterkampf als lustige und etwas absurde Episode. Die meiste Zeit des Stückes aber liegen die Gegenden, in denen die Begegnungen und Berührungen stattfinden, außerhalb jener Geschichte, in der mit der geschlechtsspezifischen Aufteilung der Rollen zwischen Männern und Frauen schon das meiste gesagt ist und Konflikte vorgezeichnet sind. Wie weggewischt sind diese Projektionen. Kein Teufel, keine Schlangen, keine Schuldigen.
Stattdessen schlagen die Tänzer versuchsweise ein neues Durchbuchstabieren des Körpers vor. Wie ein Lehrer an der Tafel weisen sie abwechselnd mit dem Finger auf Körperteile und Zonen, und die anderen übersetzen das in Bewegungen. Die Körper werden in „S“ in ihrer ganzen Ausdehnung sensibilisiert. Ein Tänzer schiebt sich kopfüber zwischen zwei anderen hindurch, die ihn wie ein Futteral umklammern. An Stöcken geführte Hände streichen durch die Luft um eine Frau, bis die Bewegungen sie einhüllen wie eine Aura.
Mit Schlüpfrigkeit und Obszönität hat die Sexualität in diesem Stück so wenig zu tun wie mit Esoterik und Therapie. All die Diskurse um das Thema Sex bleiben außen vor. Stattdessen antwortet „S“ mit kaum noch für möglich gehaltener Zartheit auf Erfahrungen des Mangels und der Sehnsucht, die in der Kunst der Gegenwart sonst fast nur mit Trauer oder Zynismus bearbeitet werden. Wenn der britische Künstler Damien Hirst eine Kuh und ein Kalb zersägt und als „mother and child divided“ ausstellt, scheint nicht mal mehr die Bindung zwischen Mutter und Kind Schutz zu bieten. Wenn Romanfiguren wie der Biologe Michel in Houellebecqs „Elementarteilchen“ keinen anderen Ausweg mehr sehen als die Erfindung einer neuen Gattung, die den sozialen Frieden um den Preis des Verzichts auf die Differenzierung der Geschlechter erlangt, scheint das Projekt Aufklärung zu den Akten gelegt.
Sasha Waltz dagegen rechnet weder mit der Geschichte noch mit der Gegenwart ab und versteigt sich auch nicht zu Utopien. Ausgangspunkt der Bewegungsfindungen sind nicht Thesen, sondern Erfahrungen und Improvisationen. Dennoch ist, was entsteht, offen für das Einfließen zeitkritischer Kontexte. Offen wie das Wasser, das auf der Leinwand im Hintergrund immer wieder in Bewegung gerät.
Mit „Körper“ von Sasha Waltz hat das neue Ensemble der Schaubühne im Januar sein Programm begonnen. Das Tanzstück wurde zur beliebtesten Produktion des Hauses. Damit nahmen sie das Haus in Besitz, maßen sich mit der Architektur, entschlackten den Tanz vom Ballast des Narrativen. Mit „S“ knüpft sie daran an, ohne sich zu wiederholen. Der Buchstabe „S“ kann für Streicheln, Sexualität und Schlaf stehen, aber auch für eine ungewöhnliche Schönheit.
KATRIN BETTINA MÜLLER
„S“, Regie/Choreografie: Sasha Waltz, Musik: Jonathan Bepler, Bühne: Heike Schuppelius, Tanz: Lisa Densem, Nicola Mascia, Grayson Millwood, Joakim NaBi Olsson, Virgis Puodziunas, Claudia de Serpa Soares, Takako Suzuki, Laurie Young
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen