Die Sieger sind verdächtig

Tour-Gewinner Lance Armstrong sieht sich neuen Dopingverdächtigungen ausgesetzt, die Enthüllungen beim Festina-Prozess von Lille rücken aber auch andere Radsportgrößen ins Zwielicht

von MATTI LIESKE

Das Verdikt von Daniel Delegove über den Radsport am Ende des Festina-Prozesses in Lille war harsch. „Insgesamt gesehen, haben die Ranglisten keinerlei Gültigkeit“, erklärte der Richter und fügte hinzu: „Die Gewinner großer Rennen sind verdächtig.“

Es dauerte keinen Tag, da wurde einer dieser Gewinner zum Objekt eines neuen Verdachts. Wie die französische Presse meldete, hat die Pariser Staatsanwaltschaft Vorermittlungen gegen das US Postal-Team von Lance Armstrong, dem Sieger der beiden letzten Auflagen der Tour de France, eingeleitet. Grundlage des Vorgehens sind die Beobachtungen eines Fernsehteams des Senders France 3, das während der letzten Tour sah, wie Plastiksäcke mit Medikamenten in ein ominöses Fahrzeug mit deutschem Kennzeichen verladen wurden. Inzwischen wurden weitere Einzelheiten bekannt. Unter den Medikamenten sei das norwegische Produkt Actovegin gewesen, ein aus Kälberblut gewonnenes Mittel, welches die Sauerstoffzirkulation im Blut erhöht und eine ähnliche Wirkung wie das berüchtigte Hormonpräparat Epo besitzt. Johan Bruyneel, Sportdirektor von US Postal, bestritt jegliche Dopingverwicklung seines Teams.

Wie schnell solche Beteuerungen in sich zusammenbrechen können, wenn sich die Betroffenen unter Eid vor den Schranken eines Gerichts wiederfinden, hat der Dopingprozess von Lille gezeigt, der diese Woche mit beantragten Bewährungsstrafen für die angeklagten Funktionäre, Mediziner und Betreuer endete. Spektakulärstes Ereignis des Prozesses, dessen Urteil am 22. Dezember verkündet wird, war das Geständnis des französischen Radprofis Richard Virenque nach zweijährigem beharrlichen Leugnen. Weit aufschlussreicher jedoch gestaltete sich das Bild, das in zahlreichen Aussagen von Sportlern und Funktionären vom Radsport gezeichnet wurde.

Nahezu Wort für Wort wurden die Behauptungen bestätigt, die der belgische Masseur Willy Voet in zwei Büchern aufgestellt hatte und die aus Radsportkreisen bislang als eine Art perfide Science Fiction hingestellt wurden. Voet hatte kurz vor der Tour 1998 den Festina-Skandal ausgelöst, als er sich mit einem Auto voller verbotener Präparate erwischen ließ. „Doping ist überall, jedes Team ist davon betroffen, in meiner ganzen Karriere habe ich nur zwei Fahrer gesehen, die nichts nahmen“, erklärte der ehemalige Radprofi Erwan Mentheour, selbst Autor eines Buches über Doping. Sein ehemaliger Teamchef bei Le Française des Jeux, Marc Madiot, habe bloß gesagt, sie sollten nehmen, was sie wollten, sich aber bloß nicht erwischen lassen. Madiot bestätigte vor Gericht diese Haltung: „Ich wollte nichts wissen. Was für mich zählte, war, dass keiner auffliegt.“ Mentheour belastete erneut auch Jan Ullrich, Toursieger von 1997. Dessen ehemaliger Betreuer Jeff D’Hondt habe ihm versichert, auch Ullrich hätte Epo bekommen. Konkreter wurde Thomas Davy, der von 1992 bis 1997 für Telekom, Castorama, La Française des Jeux und das Induráin-Team Banesto fuhr. Alle hätten irgendwann „den Job gemacht“, sprich: gedopt. „Ich war nicht in jedem Schlafzimmer, aber es existierte ein System von medizinisch betreutem Doping“, sagte der Exprofi.

Das Mittel Epo, so wurde vor Gericht deutlich, wurde ab 1996 massiv eingesetzt, jenem Jahr, in dem Miguel Induráin plötzlich chancenlos gegen den bis dahin wenig aufgefallenen Dänen Bjarne Riis war. Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc sagte aus, der Gebrauch dieses Mittels sei schon 1994 rapide angestiegen: „Ich war alarmiert.“ Danach, so legten die Geständnisse der Radprofis nahe, sei es nicht mehr möglich gewesen, sauber vorne mitzufahren. Konkurrenten, die nie eine Chance gegen ihn hatten, seien plötzlich an ihm vorbeigefahren, erklärte der Franzose Luc Leblanc, 1994 noch „völlig clean“, wie er behauptet, Vierter der Tour. „Um meine Karriere fortzusetzen, musste ich so handeln“, begründete er sein Doping. Ähnlich äußerte sich Virenque: „Ich war wie ein Schaf. Wäre ich aus der Herde ausgeschert, hätte dies das Ende bedeutet.“

Ironischerweise war das angeklagte Festina-Team offenbar sogar für eine gewisse Mäßigung beim Doping bekannt. „Viele Fahrer gingen deswegen gern zu Festina“, sagte Mentheour. Willy Voet erläutert in seinem Buch „Gedopt“, dass Festina bei der Tour 1997, als man am Ende Telekom und Ullrich schwer zusetzte, in der letzten Woche deshalb so stark gewesen sei, weil der kurz zuvor vom Weltradsportverband UCI festgesetzte Hämatokritgrenzwert von 50 Prozent die Fahrer nicht so hart getroffen habe. Bei Festina hätte man den Wert nie über 54 Prozent getrieben, andere Teams seien bis zu 60 gegangen.

Aussagen mussten in Lille auch die obersten Vertreter des Radsports, und vor allem beim UCI-Präsidenten Hein Verbrüggen wurde deutlich, wie der Radsport so tief in den Sumpf geraten konnte. „Ich fühle mich nicht verantwortlich, wenn sich ein Fahrer dopt“, sagte der Belgier und schwadronierte in bewährter Manier drauflos: „Wir sind vieleicht nicht perfekt, aber die Welt ist eben nicht perfekt.“ Nur ein Prozent seines Budgets habe der Verband für die Dopingbekämpfung ausgegeben, rechnete Daniel Delegove vor, doch Verbrüggen blieb ungerührt. „Wir sind kein reicher Verband, aber wir haben alles getan, um dieses Übel zu bekämpfen.“ Da war der Richter zu einer ganz anderen Einschätzung gekommen: „Sie haben diejenigen bekämpft, die sich gegen Doping aussprachen, aber nicht das Doping selbst.“