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In der Welt der schönen Bilder

Wie das größte Transparent der Kundgebung für Toleranz verschwand und nie wieder gesehen wurde

Die Botschaft war plakativ, vereinfachend, aber auf jeden Fall nicht zu übersehen: Als am 9. November 200.000 Menschen für Menschlichkeit und Toleranz auf die Straße gingen, hielten einige der Demonstranten am Pariser Platz ein über 20 Meter langes Transparent in die Luft. „Nazis morden, der Staat schiebt ab – deportation is murder“, stand darauf in großen Buchstaben. In zu großen Buchstaben offenbar.

Denn nach nur zehn Minuten, noch vor der Rede von Bundespräsident Johannes Rau, sorgten Dutzende von Zivilpolizisten dafür, dass der „Aufstand der Anständigen“ nicht allzu unanständig wurde. Die Beamten entrissen den Kundgebungsteilnehmern das auf Stangen getragene Plakat und brachten so die dissidente Meinung zum Verschwinden. Diese, so die Antifaschistische Aktion Berlin, sollte auf den „Zusammenhang von zunehmendem Neofaschismus und institutionellem Rassismus aufmerksam machen“.

Die Veranstalter des Bündnisses „Wir stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz“ erfuhren von dem Vorfall erst aus den Zeitungen: „Von unserer Seite gab es keine Aufforderung, kritische Transparente aus der Kundgebung zu entfernen“, meinte Mitorganisatorin Marie Vogt. Die Polizei sei von sich aus eingeschritten.

Die rechtliche Grundlage der Maßnahme ist fraglich. „Mir ist nicht bekannt, dass in der Vergangenheit jemand wegen der betreffenden Parole verurteilt worden wäre“, sagte der Strafverteidiger Sven Lindemann. Die Bundesregierung mache selbst kein Geheimnis daraus, dass sie abgelehnte Asylbewerber abschieben lasse. Selbst die strenge Gleichsetzung von rassistischen Morden und staatlicher Politik sei im Rahmen der Meinungsfreiheit zulässig. „Es bedarf schon einer großen juristischen Fantasie, deswegen ein Strafverfahren einzuleiten.“

Einer Fantasie, die offenbar auch die Berliner Polizeibehörden nicht aufbringen wollen. Auf Anfrage teilte die Polizeipressestelle gestern mit, eine Beschlagnahme eines Transparents mit der betreffenden Aufschrift sei nicht aktenkundig. „Von diesem Plakat weiß keiner was.“ Dank des Polizeieinsatzes gilt dies nicht nur für die Strafverfolgungsbehörde. sand

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