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Leben oder keins?

■ Bei der „Fiesta de la Bulería“ gaben sieben Flamenco-Stars aus Jerez faszinierende Lehrstunden in allen Spielarten des Genres

Der Mann könnte vom Äußeren her vielleicht Fahrkartenverkäufer sein. Oder Busfahrer. Zumindest deutet seine gedrungene Gestalt auf eine Tätigkeit im Sitzen hin. Und wenigstens das stimmt auch. Aber die Reise, auf die er seine Gäste mitnimmt, spielt sich im Kopf ab. Zu allerletzt würde man denken, dass der ältere Herr mit den auffallend kurzen Fingern ein Gitarrenvirtuose ist. Ohne Übertreibung: Paco Cepero ist einer der ganz wenigen Ausnahmekönner der Flamenco-Gitarre, die den Vergleich mit dem Weltstar Paco de Lucía nicht scheuen müssen.

Beweisen muss der vielfach preisgekrönte Guitarrero seine Fertigkeiten indes nicht mehr: Nur gelegentlich nimmt er wie im vorbeigehen einen Höllengitarrenlauf mit, der Bluegrass-Hochgeschwindigkeitsartisten den Schweiß auf die Stirn treiben würden. Ansonsten präsentierte er sich am Sonnabend in der Glocke als ein Mann der leisen Töne. Mit zarten, gefälligen Melodien verwöhnte er sein nordeuropäisches Publikum. Das entspannte sich dann – in Urlaubserinnerungen schwelgend – fast zu sehr. Erst das lärmige Finale jedes Stücks – ungefähr wie Death-Metal unplugged – holte die verträumte Menge wieder an den Ort des Geschehens zurück: Die bis auf den letzten Platz gefüllte Glocke.

War das Experiment zu gewagt, den Flamenco aus den tascas von Jerez de la Frontera in den strengen Konzertsaal im unterkühlten Norden zu bringen? Die aufmunternden Zurufe kamen nur vereinzelt, schüchtern klatschte jemand den Rhythmus mit. Aber zum Glück war Cepero mit sechs anderen Künstlern angereist, die sich gegenseitig in Stimmung brachten. So kam zumindest auf der Bühne Stimmung auf wie in einer andalusischen Sherry-Kneipe. Reihum präsentierten sie eine Art Übersicht über die Ausdrucksformen des flamenco puro – also des traditionellen Flamenco ohne die modischen Bluesalsajazz-Mätzchen der flamenco fusión, mit der die Jugend derzeit die Szene aufmischt.

Neben der Gitarre gehört dazu unbedingt der Tanz, ob als Kunstform wie bei der beeindruckenden María del Mar Moreno oder in der deftigeren Variante von Macarena de Jerez: Als die junge cantaora/bailaora wie ein Waschweib schimpfend über die Bühne stürmte, von ihren Kollegen lauthals angefeuert, brach auch im Publikum die vornehme Distanz auf. Die ersten hielt es nicht mehr in den Sitzen. Da war es auch verziehen dass Sänger José Vargas „El Mono“ wie Rumpelstilzchen über die Bühen hüpfte.

Sein Partner Miguel Flores Quirós „El Capullo de Jerez“ erinnert wohl nicht ganz zufällig an die Flamenco-Ikone Camarrón de la Isla, der an einer Überdosis Heroin starb. Wie der Meister vereint er in seiner Person jene beiden Pole, die den Flamenco so schwer fassbar machen: Die poetische Kunst des Klagelieds und die derbe, volkstümliche Unterhaltung.

Wenn er singt „wir leiden so sehr, das ist kein Leben“ schießen dem Zuhörer unwillkürlich die Tränen des Mitleids mit den spanischen Gitanos in die Augen. Listig grinsend erinnert sich der hagere Mann wenig später irgendeiner Liebesgeschichte und bleckt dazu seinen einzigen verbliebenen oberen Zahn. Und man ahnt: Ganz freudlos kann das Leben in den Weiten Andalusiens nicht sein.

Will das Bremer Instituto Cervantes die Feierlichkeiten zu seinem fünften Geburtstag irgendwann toppen, wird es wohl den Camarrón wieder zum Leben erwecken müssen. Jan Kahlcke

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