us-wahldilemma: Grobe Gerechtigkeit
105 Millionen Stimmzettel wurden nach letztem Auszählungsstand in Amerika abgegeben – in tausenden von Wahllokalen. Sie sahen von Landkreis zu Landkreis verschieden aus und wurden auf verschiedenerlei Arten angekreuzt, gelocht, gescannt oder sonstwie kenntlich gemacht. Palm Beach County war nicht der einzige Wahlkreis, in dem Wahlzettel missverständlich waren, Florida nicht der einzige Bundesstaat, in dem es zu Unregelmäßigkeiten kam.
Kommentarvon PETER TAUTFEST
„Anträge zur Neuauszählung in einem Wahlkreis führen zum dritten Weltkrieg“, so ein Wahlhelfer in New Mexico. Er meint: Wenn man erst an einem Ende der USA mit einer Neuauszählung beginnt, dann gibt es kein Halten mehr, und das ganze Verfahren demokratischer Legitimierung von Macht durch Wahlen kommt ins Rutschen. Tatsächlich kann es bei dieser Wahl wohl nur noch das geben, was Amerikaner „rough justice“ nennen – eine grobe Gerechtigkeit. Die genaue Zahl der für den einen und anderen Kandidaten abgegebenen Stimmen wird sich nie mehr feststellen lassen.
Zur Wahl des Präsidenten sieht die US-Verfassung ein Gremium aus Wahlmännern vor. Nur dieses Gremiums wegen spielt Florida jetzt eine derartig prominente Rolle. Diese Zuspitzung auf einen Bundesstaat ist ein Segen: Da bekannt ist, dass Neuzählungen anderswo nichts an der Zusammensetzung des Wahlmännergremiums ändern würden, muss das Fass nicht noch in anderen US-Wahlbezirken aufgemacht werden. Noch sind in Florida nicht alle Stimmen ausgezählt: Bis Freitag können per Post eingegangene Stimmzettel gewertet werden. Deren Eingang sollte abgewartet, dann sollte ein Schlussstrich gezogen und die Zahl darunter akzeptiert werden. Schließlich wird in zwei Jahren das Repräsentantenhaus neu gewählt. Und in vier Jahren auch der Präsident.
Sicher: Die Amerikaner könnten von den Italienern lernen, dass ein Land eine Weile auch ganz gut ohne Regierung auskommt. Aber der Streit um die Legitimität der Amtsnachfolge birgt auch Gefahren. Das Schlimmste wäre nicht etwa ein führungsloses Amerika, sondern dass die Polarisierung im Lande nicht nur die politische Klasse, sondern die ganze Gesellschaft entzweit. Die Vereinigten Staaten sind noch heute von einem Bürgerkrieg gezeichnet, der vor 140 Jahren sein Ende fand. Was ein Auseinanderfallen der US-Gesellschaft heute bedeuten könnte, das ahnt wohl nicht nur der Wahlhelfer aus New Mexico.
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