: Supermollis und scharfe Schüsse
Die Räumung der zwölf besetzten Häuser in Friedrichshain war für die übrigen Besetzer ein Durchbruch zum Erfolg
„Berlin gelingt’s“ lautete 1990 der Wahlkampfslogan der SPD. Am 14. November 1990, also vor genau zehn Jahren, war es der SPD tatsächlich gelungen. Gegen 8 Uhr morgens waren die zwölf Häuser in der Mainzer Straße in Friedrichshain geräumt. Die rot-grüne Koalition war damit am Ende, der Häuserkampf dagegen noch lange nicht.
Mit der Räumung von drei Häusern in Lichtenberg und Prenzlauer Berg hatte Innensenator Erich Pätzold (SPD) zwei Tage zuvor den Startschuss gegeben. „Wir haben die Auseinandersetzungen erwartet“, erklärte Pätzold später, zeigte sich aber vom Ausmaß des Widerstands überrascht. Kaum hatte die Polizei nämlich in der Lichtenberger Pfarrstraße mit der Räumung begonnen, kam es bereits auf der Frankfurter Allee zu Straßenblockaden. Am Abend schließlich hatten die Besetzer den ersten Tag für sich entschieden. Auf beiden Seiten der Mainzer Straße türmten sich Barrikdaden, mit einem Bagger waren tiefe Gräben gezogen worden. Rund um die autonome Hochburg herrschte eine „befreite Zone“. Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren diktierten Hausbesetzer den Rhythmus der Berliner Politik.
Und zum ersten Mal seit der Vereinigung am 3. Oktober 1990 durfte die Westberliner Polizei dem erstaunten Ostpublikum vorführen, wie man eine besetzte Straße zurückerobert. Während der zweite Tag noch den Besetzern und den zahlreichen Touristen gehörte, begann die Polizei am frühen Morgen des 14. November mit der Räumung. 300 Personen wurden festgenommen, viele davon verletzt. Im Anschluss präsentierte die Polizei einen „Supermolli“, den sie auf einem der Dächer gefunden haben will. Die Besetzer klagten, dass die Beamten einen Besetzer durch Schüsse in die Wade verletzt hätten. Am Abend demonstrierten 10.000 weitgehend friedlich gegen die Räumung und den Polizeieinsatz.
Zehn Jahre später sieht die Bilanz nüchterner aus. Ohne die Räumung der Mainzer Straße hätte es wohl für die meisten der damals 130 besetzten Häuser in Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg keine Verhandlungslösungen gegeben. Und ohne die Räumung der Mainzer Straße wären SPD und Grüne nicht getrennt zu den Abgeordnetenhauswahlen am 2. Dezember 1990 angetreten. Am 16. November nämlich hatte die Alternative Liste der SPD die erste rot-grüne Koalition in Berlin aufgekündigt.
Heute ist in die Mainzer Straße Ruhe eingekehrt. Die Häuser wurden mit Millionenaufwand saniert, die Rendite floss privaten Eigentümern zu, ein Skandal, der keinen mehr hinter dem Ofen hervorlockte. Auch der Wohnungsleerstand bestimmt nicht mehr den Rhythmus der Berliner Politik, obwohl heute mit 50.000 fast doppelt so viele Wohnungen leer stehen wie vor zehn Jahren.
Andererseits: Nimmt man den Zehn-Jahres-Abstand der Berliner Besetzerwellen ernst, müsste es nach 1980 und 1990 wieder losgehen. Vielleicht in Marzahn, wer weiß? UWE RADA
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