: In der Abseitsfalle
Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt gerät in seiner Partei unter Druck: Er soll jetzt vor Gericht seine Unschuld beweisen
von PATRIK SCHWARZ
Es geht um Leben oder Tod, und Peter Struck spricht von der Rente. Zugegeben, nicht ein Menschenleben steht auf dem Spiel, aber etwas, das Reinhard Klimmt fast genauso lieb sein dürfte: sein politisches Überleben. Schon den ganzen Nachmittag über war die Luft für den Bundesverkehrsminister immer dünner geworden, hier oben unter der Reichstagskuppel, wo sich die SPD-Fraktion zu ihrer wöchentlichen Sitzung versammelt hatte. Entgegen allen Usancen drängen sich SPD-Abgeordnete sogar in einer Sitzungspause, Reportern ihren Zorn in den Block zu diktieren. „Ich habe keinen in der Fraktion gehört, der sagt, Klimmt muss bleiben“, sagt Volker Neumann, der als Vorsitzender des CDU-Spendenausschusses besondere moralische Autorität genießt. „Wenn man Kohl und (seinen Helfer) Terlinden wegen Untreue vor den Untersuchungsausschuss stellt, muss man an den Klimmt die gleichen Standards anlegen.“ Der Abgeordnete Stephan Hilsberg wird noch deutlicher: „Ich glaube, wir sollten ihm empfehlen, den Hut zu nehmen.“
Wer wie Klimmt und sein Kanzler am Tag zuvor noch geglaubt hatte, die „Affäre Doerfert“ sei mit dem Strafbefehl für den Minister fast ausgestanden, sah sich getäuscht. Als Struck vor den Fraktionssaal tritt, ist jene schwer durchschaubare Verquickung politischer, finanzieller und fußballerischer Interessen des einstigen Landesfürsten Klimmt endgültig im politischen Zentrum der Hauptstadt angekommen. Die Frage lautet nur noch: Muss Reinhard Klimmt gehen?
Dem Fraktionsvorsitzenden ist der „Aufbau einer kapitalgestützten Säule“ erst mal wichtiger. Doch nicht an seinen Parteifreund Klimmt denkt Struck dabei, der eine gute Altersvorsorge bald nötig haben könnte, sondern an den Auftrag seines Kanzlers, im Fall Klimmt für Ruhe zu sorgen. Nachdem Struck sich zu den Details der 2. und 3. Lesung der Rentenreform ausgelassen hat, verkündet er die Linie, auf die er sich an diesem Nachmittag offenbar mit Parteichef Gerhard Schröder und SPD-Generalsekretär Franz Müntefering verständigt hat. „Wer unschuldig ist, und ich halte Reinhard Klimmt für unschuldig, der soll kämpfen, um seine Unschuld vor Gericht zu beweisen“, sagt Struck, ohne eine Mine zu verziehen. Den Strafbefehl solle er anfechten, rät der Fraktionsvorsitzende, ganz so als hätte Klimmt eben diese Zahlung von 27.000 Mark am Vortag nicht schon so gut wie angenommen. „Eine falsche Entscheidung“, befindet Struck lapidar.
„Das ist keine Lösung!“, entfährt es einem Mitglied der Fraktion, die nach Aussagen ihres Vorsitzenden das Plädoyer für ein Gerichtsverfahren mit großem Beifall bedacht hat. Der Zweifel ist verständlich. Soll Klimmt ein Anstandsstündlein gegönnt werden, damit er selbst den Bettel hinwerfen kann? Oder glaubt Schröder, in Zukunft gar zu viele Kabinettsmitglieder zu verlieren, wenn er einen Strafbefel zur Hürde für den Rausschmiss erhebt? Was auch immer sich die Granden der deutschen Sozialdemokratie bei ihrer Lösung gedacht haben, es wirft zumindest die eigenen Verteidigungslinien über den Haufen. Noch am Vormittag hatten die Regierungssprecher tapfer verkündet, mit dem Strafbefehl und also einem Schuldeingeständnis sei die Angelegenheit erledigt. Jetzt raten sie ihrem Minister plötzlich, jegliche Schuld zu bestreiten.
Wie groß ist der Schaden für die Glaubwürdigkeit der Regierung, wird Peter Struck gefragt, doch er versteht die Frage nicht. „Noch mal, bitte?“, ruft er. Offenbar ist die SPD auf einem Ohr taub geworden – eine Schwerhörigkeit, die einst auch die Regierung Kohl trotz ihrer moralischen Ansprüche rasch überkam.
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