piwik no script img

DIE DEFIZITE DER POLITIK VERURSACHEN DIE DEFIZITE DER BAHNHer mit den Milliarden!

Vor einigen Wochen renovierte ein Freund seine Altbauwohnung. Und riss die Tapete ab. Doch nicht nur die großen, bunten Blumen verließen die Wand: Dahinter quollen Zeitungen und Zeitungen hervor. Alle aus den 70er-Jahren. Die Vormieter hatten – Marke Eigenbau – eine billige und effiziente Isolierung gewählt.

Die Lektüre der Fetzen war ernüchternd. Sieht man von den großen Dramen der damaligen Popkultur ab – John Lennon lebte noch und Elvis Presley auch –, dann hat sich seither nicht viel in den deutschen Nachrichten verändert. Die gleichen Themen, Probleme, Vorschläge.

Zum Beispiel bei der Bahn. Die fuhr damals auch schon Defizite ein. Und schon damals war erkannt, dass nicht die Bahn schuld an ihren Schulden ist: Sie wird vom Staat systematisch benachteiligt, der einseitig das Auto fördert. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nur dass die Krise der Bahn inzwischen ihre Existenz bedroht.

Man muss verzweifeln: Seit dem Ölpreisschock 1973, seit dem Waldsterben und spätestens seit der Entdeckung der nahenden Klimakatastrophe ist unstrittig, dass das Auto ein Auslaufmodell ist. Geradezu panisch stellt sich der Westen vor, wie das Wetter reagiert, wenn erst China und Indien komplett motorisiert sind.

Es gibt keine Alternative zur Bahn. Aber das ist für die Autolobby natürlich kein Grund, aufzugeben. Lieber hofft sie neuerdings auf den Wasserstoffantrieb. Selbst wenn man daran glaubt, dass sich die Serienreife bald einstellen würde: Das Auto bliebe eine Umweltsünde. Denn der Wasserstoff muss erst hergestellt werden – mit fossilen Brennstoffen. (Aber die Autolobby wäre keine gute Lobby, wenn sie nicht schon mal ins Blaue hinein versprechen würde, irgendwann Solarenergie einzusetzen, um den Wasserstoff zu produzieren.)

Was allerdings sogar die Freunde des Autos und des Lastwagens zugeben: Es ist völlig unklar, wo all die Vehikel langfahren sollen, die sie so gern bauen und kaufen wollen. Der Verkehr wird weiter zunehmen, das ist sicher. Ebenso sicher ist, dass sich nicht alle Autobahnen erst auf sechs, dann acht, dann zehn Spuren verbreitern lassen . . .

Wir brauchen die Bahn. Aber nicht nur als Alternative zum Flugzeug, wie gern diskutiert wird. Also nicht nur auf einigen ICE-Hochleistungsstrecken. Wir brauchen die Bahn als Alternative zum Auto. Und das heißt vor Ort, im Nahverkehr. Als großes Netz, nicht als Skelett. Also her mit den Milliarden!

Aber das forderten die Zeitungsfetzen hinter der Tapete auch schon. Vor mehr als zwanzig Jahren.

ULRIKE HERRMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen