: Singen gegen den Tod
Udo Jürgens ist mittlerweile wirklich 66 Jahre alt. Bis zum Frühjahr zeigt er auf seiner sechzehnten Tournee, warum aus einem jungen Talent ein internationaler Star werden konnte
von JAN FEDDERSEN
Seit Anfang Oktober immer wieder das gleiche und erwartete und erhoffte Zeremoniell. Drei Stunden Konzert. Dann die Zugabe im weißen Bademantel. Wie gehabt die Premiere in der Provinz, ehe es in Städte wie München, Berlin oder Hamburg geht, wo das Publikum schon mal schlecht gelaunt reagiert, selbst bei den großen Namen. Eine unbegründete Angst, denn Udo Jürgens’ Entertainment ist mittlerweile sakrosankt.
Zunächst singt er ein paar neue Lieder, die aber werden kaum mitgesungen. Umso reichhaltiger die Rückschau auf seine gut viereinhalb Jahrzehnte im Musikgeschäft. „Gabi wartet im Park“, „Ich war noch niemals in New York“, „Aber bitte mit Sahne“, „Immer wieder geht die Sonne auf“, „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ oder „Merci Chérie“. Die Säle toben bei „Mit 66 Jahren“.
Die hat er gerade vollendet, weshalb er sich leisten darf, diesen Song besonders inbrünstig auf seinem Klavier zu begleiten, denn er sagt selbst, dass er nie damit gerechnet habe, dieses Lied einmal in jenem Alter öffentlich singen zu können. Nun tut er es mit selbstironischer Würde. „Hätte ich es erst jetzt geschrieben, wäre es ja nur peinlich.“ Kein Stück aus seiner seit 1964 erfolgreichen Karriere macht ihn verlegen – was auch als ein Zeichen von hart erarbeitetem Selbstvertrauen zu sehen ist.
Udo Jürgens wird seit dreißig Jahren gefragt, ob dies nun seine letzte Tournee sei, ehe er sich in den Ruhestand begibt. Wieder und wieder sagt er, dass er es nicht wisse. Nur so viel gibt er bekannt: Immer wieder höre er, dass Menschen nach der Pensionierung plötzlich sterben, wenn sie aufhören, gebraucht zu werden. Udo Jürgens will gebraucht werden. Das ist ihm ein gutes Mittel gegen den Tod. Bloß nicht rasten!
Fast hätte er das Entertainment aufgegeben. Schon Mitte der Fünfzigerjahre hatte er einen kleinen Plattenvertrag, aber seine Platten wurden nicht gekauft. Weshalb auch? Er sang Coverversionen aus den Stuben deutscher Schlagerproduzenten, „Der lachende Vagabund“, Cowboyartiges und andere Nichtigkeiten. Das war zu wenig für einen Mann, der als Kind sich minderwertig fühlte und diesen Eindruck auch durch Klavierstunden, verordnet von der Mutter, nicht tilgen konnte. Die einzig in seinen Augen gelungene Komposition, „Jenny“, floppte.
Mit ihr errang er 1960 den ersten Platz beim Liederfestival im belgischen Knokke. Aus jener Zeit rührt seine tiefe Aversion gegenüber deutscher Gemütlichkeit. „Jenny“ war ein durch Sänger wie Charles Aznavour inspiriertes Chanson, das gegen die lachenden Vagabunden und Heimwehkranken deutscher Provenienz nichts zu melden hatte. Es war noch nicht seine Zeit.
Heute hat Udo Jürgens die Gelassenheit, das auch so zu sehen. Seine Neigung zu Höherem traf erst auf Widerhall, als er einem kaum älteren Mann auffiel, der mit ihm zu einem der mächtigsten Medienmanager der Bundesrepublik aufstieg: Hans R. Beierlein. Der verordnete ihm zunächst nichts als harte Arbeit und einen Blick auf die wichtigen Zusammenhänge, die entscheidend sind für eine Karriere, die länger hält als zwei Hits und über Österreich und Deutschland hinausreicht.
1964 schickte ihn der ORF erstmals zum Grand Prix Eurovision. Für Deutschland, so Jürgens, wollten sie auf keinen Fall antreten. „‚Du musst dich am internationalen Markt orientierten‘, sagte mein Manager, nicht an dem, was in Deutschland so gang und gäbe ist – ‚Komm ein bisschen mit nach Italien‘ oder ‚Im Stadtpark die Laternen‘.“
Beierlein hielt ihn an, nicht auf schnellen Erfolg zu bauen. Noch sei die Zeit nicht günstig für Lieder, wie sie in Frankreich Erfolg hatten. Udo Jürgens studierte an Gilbert Bécaud, was einen Musiker zum Star macht. Der Österreicher erkannte den Wert, das Publikum nicht mit Belanglosigkeiten zu traktieren, es lieber an kleinen Liebesgeschichten, überhaupt an Geschichten aus dem Leben teilhaben zu lassen, auf dass es sich wieder erkenne. Und er sah, dass Kollegen wie Bécaud oder Aznavour in die Kameras schauen, mit ihr zu flirten scheinen, wenn sie ihre drei- bis vierminütigen Chansons voller Kummer und Liebesleid singen.
Mit „Warum nur, warum“ belegte Udo Jürgens den sechsten, ein Jahr darauf mit „Sag ihr, ich lass sie grüßen“ den vierten Platz beim Grand Prix Eurovision. Beim dritten Versuch, 1966, kalkulierten Jürgens und Beierlein, dass es eine französischsprachige Titelzeile brauchte, um die Jurys in Frankreich, Belgien und der Schweiz gewogen zu stimmen. „Merci Chérie“ gewann eindeutig, auch ohne einen einzigen Punkt aus Deutschland – was auch daran gelegen haben mag, dass die Bild-Zeitung am Tage des Concours in Luxemburg hämisch spekuliert hatte, Udo Jürgens werde für ein solch lahmes Lied von niemandem Zuspruch erhalten.
Danach begann der erste Erfolgsabschnitt seiner Karriere. Er galt als Kontrastprogramm zu den „Beatles“, wenngleich er eher eines zu Roy Black war. Einer, der mit kultivierter Melancholie zum Mädchen- und Frauenschwarm avancierte. Und einer, der mit „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ zeigte, dass er sich in den Popzentren der Welt auskannte, in Motown unter anderem. Nichts an seinen Songs hatte etwas vom deutschen Gemütlichkeitssound. Die Tournee „Udo ’70“ geriet zum Medienereignis: ein deutschsprachiger Sänger als Hallenfüller.
Dass er es geschafft hatte, war nicht zuletzt daran abzulesen, dass er inzwischen auch zu Themen außerhalb seines Jobs befragt wurde, ob zu den Ostverträgen oder zum Paragraphen 218. Dann kam der entscheidende Knick, ehe es Udo Jürgens wirklich zum Sänger des sozialliberalen Mainstreams brachte. Anfang der Siebzigerjahre sang er mit „Lieb Vaterland“ ein Lied, das sich aus heutiger Perspektive wie ein Aufruf zur bolschewistischen Revolution ausnimmt und damals von allem, was sich rechts der SPD bewegte, als fies und gemein gegeißelt wurde.
Erst Mitte der Siebzigerjahre fand er endlich jenes Image, das er am besten ausfüllen kann: das des Kritikers des Spießertums („Ein ehrenwertes Haus“), des Reporters aus den Langstrecken des Beziehungslebens („Ich war noch niemals in New York“), des Beobachters der Besinnungslosigkeit („Aber bitte mit Sahne“). Udo Jürgens, der offen zugibt, mit Achtundsechzig zunächst nichts am Hut gehabt zu haben, machte sich schließlich einen gut Teil jener Protestbewegung zu Eigen.
Heute verschweigt er nicht, was er von der FPÖ hält, nämlich gar nichts – ein Fluch, der auch Karl Moik und die Volksmusik einschließt („Seelenbefriedigung für alte Leute und die Landbevölkerung“). Er hält auf Internationalität und Völkerfreundschaft. Er ist einverstanden mit sich und weiß, dass es Hans R. Beierlein war, der ihn davor bewahrt hat, sich mit weniger als echter Klasse zufrieden zu geben. Das Rezept hat ja auch funktioniert. Jeden Tag während seiner Tournee merkt er es. Dann schwitzt er vor Bühnenwahn, der trotzdem nicht nach Arbeit aussieht. Die meisten seiner Kollegen aus den Sechzigerjahren tingeln auf Oldieparties. Udo Jürgens, der sich als „Minnesänger“ versteht, ist immer noch im Mainstream.
JAN FEDDERSEN, 43, taz.mag-Redakteur, lebt in Berlin. Er interviewte Udo Jürgens bereits für sein Buch „Merci, Jury!“, Wien 2000, 268 Seiten, 48 Mark
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