: „Wir waren ein Fuß“
Über die Beine der Dolores gab es mal einen Gassenhauer. Kuno Kruse beschreibt die Lebensgeschichte des Tänzers Sylvin Rubinstein, der seine Zwillingsschwester im Holocaust verlor und an ihrer Stelle auftrat – „Dolores & Imperio“
olores, so hieß eine schöne jüdische Tänzerin, die in den dreißiger Jahren durch Polen und halb Europa tanzte. Dolores & Imperio, so lautete ihr Künstlername, denn sie trat stets mit ihrem Bruder auf. Und als Dolores durch die Nazis umgebracht wurde, tanzte ihr Bruder weiter; er tanzte nicht nur sich selbst, er tanzte auch seine Schwester. Mal halb Mann, halb Frau, mal ganz in Rüschen und Stöckelschuhen. Damals, in den Fünfzigerjahren, pfiffen alle den Gassenhauer von den Beinen der Dolores. Und Dolores tanzte den Flamenco.
Der Journalist Kuno Kruse, taz-Mitbegründer, später mehrfach mit Preisen ausgezeichneter Reporter bei der Zeit, dem Spiegel und inzwischen beim Stern, hat die Lebensgeschichte von Sylvin Rubinstein alias Dolores aufgeschrieben. Viele Wochen hat er in der kleinen Wohnung im Hamburger Stadtteil St. Pauli dem inzwischen 87-jährigen Tänzer zugehört. Er ist mit ihm gereist, nach Polen, nach Berlin, an viele Orte, in denen Rubinstein gelebt und gelitten hat.
Es ist ein ergreifendes, anrührendes, schauerliches, wunderbares Buch geworden. Sehr emotional geschrieben, sehr expressiv. Nur manchmal ein wenig zu chaotisch, dann, wenn der Autor den Jahrzehnte umfassenden Zeitsprüngen des Erzählers Rubinstein folgt und die Chronologie zu sehr missachtet.
Dolores & Imperio: Sylvin und Maria Rubinstein waren Zwiegespaltene. Zwiegespalten, weil Zwillinge, 1914 in Moskau. Und zwiegespalten, weil religiöse Zwitter. Die Mutter Jüdin, der Vater Christ, ein russischer Fürst namens Dodorow, als Offizier des Zaren in der Revolution erschossen. Mutter und Kinder flüchteten nach Brody, eine galizische Kleinstadt an der polnischen Grenze zur Sowjetunion. In Brody, wo die Kinder heranwuchsen, gab es mehr Juden als Christen. „Miese Gojim! Miese gojim!“, riefen sie den Zwillingen nach. „Wir nicht gehörten zu die Jidden und nicht zu die Gojim“, sagt Rubinstein. In seiner Wohnung in St. Pauli sitzt der alte Tänzer zwischen Ikonen und Marienfigur und betet hebräisch. „Maria war Jüdin, und auch das Christuskind auf ihrem Arm war Jude.“
Maria, seine Schwester, war auch Jüdin, im Judentum geht die Religionszugehörigkeit von der Mutter auf die Kinder über. Die Kinder Maria und Sylvin schliefen im selben Bett. Als die Mutter irgendwann ein zweites Bett kaufte, blieb es leer. Maria schlüpfte zu Sylvin oder Sylvin zu Maria.
Zwiegespaltene, Unzertrennliche. Sie versprachen sich, niemals auseinander zu gehen. Maria liebte, so lange sie lebte, keinen anderen Mann. Sylvin verknallte sich ein paar Mal, heimlich und ohne Folgen, mehr nicht. Dass er später irgendwann Sala heiratete, akzeptierte auch Maria. Denn es war auf Geheiß ihrer Mutter geschehen. Sala hatte genauso wie ihre Mutter zwei Kinder und keinen jüdischen Mann.
Maria und Sylvin waren noch keine zehn Jahre alt, als sie bei Madame Litwinowa in Riga das Tanzen lernten. „Euch werden die Bretter der Welt gehören“, prophezeite die Litwinowa. Aus Maria & Sylvin wurden Dolores & Imperio.
In den Dreißigerjahren tingelten sie durch die Varietés: Polen, Deutschland, Ungarn, Tschechoslowakei; sogar in den USA traten sie auf. Sie erregten Aufsehen. „Maria und ich“, sagt Rubinstein, „wir waren magnetisch, wenn wir haben getanzt, wir waren ein Fuß.“
Imperio: 1939 kam der Krieg und Polens Kapitulation vor den Nazis. Die Varietés waren geschlossen. Dolores verkroch sich in Künstlerpensionen und las Romane. Imperio ging zuerst auf den Schwarzmarkt, dann in den Untergrund. Wurde kaltblütig. Stahl den deutschen Besatzern Geld und Waffen. Wurde zweimal verhaftet. Mit 47 anderen in eine einzige Zelle gesperrt. Misshandelt. Kam nur frei, weil er sich als Ukrainer ausgab und so schön das christliche Kreuz schlagen konnte. Wurde ins Warschauer Getto gesperrt.
Entwischte, mit Dolores zusammen.
Maria wollte zurück nach Brody, zur Mutter, zu Sylvins Frau Sala. Sie trennten sich auf dem Bahnsteig von Warschau, und nichts bereut Sylvin Rubinstein in seinem Leben mehr als diese Trennung. Er sah sie niemals wieder: Maria nicht, die Mutter nicht, Sala und die Kinder nicht.
Imperio blieb allein. In Krakau begegnete ihm ein deutscher Offizier, der Hölderlin zitierte. Kurt Werner, ein Mann des Widerstands. Imperio nannte ihn „Vater Kurt“, er war Christ, er war Soldat, er war von geradezu aristokratischer Bildung – wie sein eigener Vater. In Krosno stahlen sie Munition für die Partisanen, retteten Juden, jagten Gestapo-Autos in die Luft. „Das macht der Junge“, sagte Werner, wenn es um besonders wagemutige Aktionen ging.
Imperio wurde zum Rächer. Er sprengte einen Nazi mit einer Handgranate in Fetzen. Er durchschnitt, nachts, allein, den elektrischen Zaun eines Lagers für sowjetische Kriegsgefangene. Verkleidet als italienische Journalistin stahl er Papiere, mit denen sie aus Jüdinnen Arierinnen machten. Bemalt wie eine Kokotte stakelte er zum Gestapo-Treffpunkt „Deutscher Hof“ und warf eine Granate hinein.
„Die Mörder haben gemordet, und wir haben die Mörder gemordet“, sagt Rubinstein. „Die Rache muss der Mensch haben. Ohne diese Rache kann er nicht leben.“
Eines Tages nahm Kurt Werner Imperio beiseite: „Du musst weg.“ Er rettete seinen Schützling, indem er ihn mit polnischen Papieren zum „freiwilligen Arbeitseinsatz“ nach Berlin schickte. „Turski“ wurde Pfleger, erlebte den Todeskampf von KZ-Häftlingen in einer Klinik, wohnte in Werners Wohnung. Es machte ihm Freude, eine Hakenkreuzfahne abzureißen, darauf zu scheißen und sie an einer U-Bahn-Station wieder aufzuhängen. Eine Woche lang hing sie so, immerhin.
Dolores: Auch das erste Kleid, das Dolores trug, war aus einer Hakenkreuzfahne. Das war nach dem Ende des Krieges. Imperio trennte die Runenzeichen heraus und warf sich den roten Stoff über.
Dann tanzte er. Vor Amerikanern, Engländern und Russen tanzte er den Flamenco. Dolores war wieder da. UTE SCHEUB
Kuno Kruse: „Dolores & Imperio. Die drei Leben des Sylvin Rubinstein“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, 272 Seiten, 38 DM
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