: Fehldiagnose durch Sprachbarrieren
Migrationspsychiatrie: Kulturelle Kompetenz statt falscher Therapien ■ Von Sandra Wilsdorf
„Ein Türke würde nicht sagen, dass er Depressionen hat. Stattdessen spricht er von Kopfschmerzen. Und dagegen bekommt er Medikamente, die natürlich nicht helfen“, sagt Dr. Marianne Röhl, Oberärztin in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nord. Mit dem Thema „Migrationspsychiatrie“ beschäftigten sich im Klinikum Nord/Ochsenzoll Experten aus ganz Deutschland und machten dabei den bestehenden Handlungsbedarf deutlich.
Immer mehr Menschen wandern nach Deutschland ein, viele sind traumatisiert, andere macht das Leben hier krank. Im Klinikum Nord hat sich bereits vor zwei Jahren der „Qualitätszirkel Migration“ gegründet, um Mitarbeiter verschiedener Fachbereiche zu sensibilisieren und so die Versorgung der Patienten zu verbessern. Mittlerweile werden pro Jahr rund 300 Patienten aus dem russischen Kulturkreis von bilingualen PflegerInnen und ÄrztInnen hier betreut.
Auch in der psychiatrischen Institutsambulanz steigt der Anteil der Zuwanderer: „Anfang des Jahres waren es neun, jetzt sind es knapp 14 Prozent“, sagt Dr. Angela Moßler-Schelling. Weil sie gut Französisch und Englisch spreche, kämen viele afrikanische Frauen.
Sprachliche Barrieren stellen ein Problem in der Behandlung dar und sind häufig Ursache für Fehldiag-nosen. Auch kulturelle Unterschiede, über die behandelnde Ärzte oft zu wenig wissen, behindern die Behandlung: „Was mache ich beispielsweise, wenn sich jemand weigert, seine Medikamente einzunehmen, weil er im Fastenmonat vor Sonnnenuntergang nichts essen darf?“, fragt Röhl.
Manchmal führen Sprachschwierigkeiten indirekt dazu, dass die eigentlichen Probleme gar nicht auf den Tisch kommen. „Wenn beispielsweise eine Frau ihren zehnjährigen Sohn zum Übersetzen mitbringt, erfahre ich sicher nichts über ihre Ehe-Probleme“, sagt Röhl. Deshalb hat der Qualitätszirkel einen Dolmetscherdienst eingerichtet. „Innerhalb von zwei bis drei Stunden können wir für nahezu jede Sprache jemanden besorgen.“
In der Institutsambulanz ist der unsichere Aufenthaltsstatus eines der größten Probleme. „Etwa 50 Prozent der Patienten sind traumatisiert. Sie leben ständig in der Angst, dass sie zurück müssen, von wo sie geflohen sind“, sagt Angela Moßler-Schelling. Diese Un-gewissheit sei Anlass für immer neue Krisen und verhindere Therapie-Formen, die nur über einen langen Zeitraum erfolgreich sein können. Viele der bewährten Rehabilitationsmaßnahmen bekommen Migranten nicht genehmigt.
Der leitende Arzt Dr. Juri Novikov fordert eine bessere ambulante Versorgung für Migranten. Außerdem sind sich die Experten darin einig, dass die kulturelle Kompetenz von ÄrztInnen und Pflegepersonal gefördert werden muss. „Wenn ich Menschen nicht verstehe, kann ich ihre Ressourcen nicht richtig erkennen“, sagt Dr. Tarik Yilmaz, Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel.
Ursula Boos-Nünning, Professorin für interkulturelle Pädagogik, fordert außerdem, dass mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Kliniken arbeiten.
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