: „Man muss sich vor der Wahrheit hüten“
Über Phänomene der Moderne, die er mit großer Skepsis betrachtet: Jean Baudrillard fürchtet, dass mit den neuen Bio-Technologien eine komplexe, problematische und dramatische Natur des Lebens beendet werden soll. Danach käme eine buchstäbliche Welt ohne übergeordnete Sinnstrukturen
taz: Herr Baudrillard, vor einigen Tagen wurden neue Direktoren der Icann gewählt, was als Wahl einer Internetregierung durch die Medien geisterte, was halten Sie davon, dass die Virtualität demokratische Formen annimmt?
Jean Baudrillard: Da muss ich als Laie antworten, ich bin kein Nutzer des Internets und technisch verstehe ich überhaupt nichts davon. Aber es scheint mir widersprüchlich zu sein, denn das Internet ist doch eine Technik, bei der eigentlich jeder autonom und individuell mit allen verbunden ist. Es ist eine direkte Beziehung, keine repräsentative, wen also soll die Internetregierung repräsentieren? Wenn es sich mit den ökonomischen, politischen Aspekten des Web befasst, dann wäre es allerdings eher eine kontrollierende Repräsentation, so wie man in der traditionellen Arbeitswelt eben auch Gewerkschaften und ähnliches baucht. Die totale Verfügbarkeit des Internets geht aber doch über die traditionellen Gesetze und Institutionen weit hinaus. Daher finde ich es seltsam, wenn sich eine Regierung im Internet einrichtet.
Es gibt noch ein weiteres zentrales Phänomen der Moderne, das Sie mit großer Skepsis betrachten: Das Klonen . . .
Skepsis ja, aber auch Neugierde.
Immerhin sprechen Sie von einer revisionistischen Bewegung.
Ah ja?
Sie nennen es die Rache der unsterblichen, weil einzelligen Wesen an den sterblichen, ausdifferenzierten Wesen.
Ja, mit dem Klonen gelangt man zu einem eigentlich überwundenen Stadium zurück, das ist sogar schlimmer als Revisionismus, das ist eine unglaubliche Regression. Wir bewegen uns zurück zu einer nicht sexuellen Form der Fortpflanzung, die extrem vereinfacht ist. Wenn sich jeder unendlich vervielfachen kann und das Identische beliebig reproduzierbar ist, dann tritt das Andere in den Hintergrund, auch der sexuell Andere und das Begehren. Nur das Begehren nach Unsterblichkeit überlebt. Jeder kann sich mit unzähligen Parzellen und Ablegern totalisieren. Natürlich ist das alles noch hypothetisch, aber ich habe das Gefühl, dass damit eine bestimmte komplexe, problematische, dramatische Dimension des Lebens beendet werden soll. Das Ergebnis wäre eine bereinigte und letztlich auch sehr puritanische Welt.
Als Alternative sehen Sie allerdings auch bloß eine Heraufkunft totalitärer Systeme, ob nun Ökonomie oder künstliche Intelligenz, die nach Ihrer Auffassung zu einer „wahren“ Welt führen können.
Wenn es darauf ankommt, ist die Wahrheit heute eher auf der Seite der künstlichen Intelligenz, zumal wenn es um Rationalität, Identität oder Logik geht. Diese Konzepte können vielleicht nicht zu einer „wahren“ Welt führen, aber zu einer, die gewissermaßen buchstäblich ist. Eine, die einfach so ist, wie sie ist, ohne übergeordnete Sinnstrukturen, übergeordnete Bedeutungen und Bestimmungen. Schon für Nietzsche war die Welt immer von „Hinterwelten“ überdeckt und versteckt. Wenn diese Hinterwelt mit ihren transzendenten Bedeutungen verschwindet und an ihre Stelle die Immanenz der künstlichen Intelligenz tritt, dann bleibt wirklich nur die buchstäbliche Welt. Eine reine Welt der Ereignisse, des Anscheins, der Formenspiele. Natürlich gibt es das alles bereits in der Kunst, auch in der Sprache, aber wenn man darüber hinausgeht und die Bedeutungssuche endlich sein lässt, wäre es ein wirklich komplexes Spiel von An- und Abwesenheit, Illusion, Wahrheit etc. Das finde ich viel interessanter als eine lineare und damit letztlich totalitäre Welt, die unaufhaltsam auf ein eindeutiges Ziel zusteuert.
Gegen diese Eindeutigkeiten setzten Sie die Singularität als Gegenkonzept. Was ist damit konkret gemeint?
Es ist sehr schwer, von der Singularität zu sprechen, denn wenn man von universellen Dingen und Konzepten spricht, dann greift man auf einen entsprechenden Diskurs zurück. Für die Singularität gibt es eigentlich keinen Diskurs. Die poetische Sprache wäre zum Beispiel eine Form der Singularität, denn man kann ein Gedicht gegen nichts austauschen. Das ist das Schöne am unmöglichen Tausch: Die Singularität ist unvergleichlich, irreduzibel, nicht austauschbar. Moralisch gesehen kann sie gut oder schlecht sein. Zur Zeit sind alle möglichen Arten der Singularität dabei, sich neu herauszubilden. Linguistische, ethnische, religiöse Gruppierungen formieren sich neu, auf der Basis eines betonten Individualismus. Manche von ihnen sind wirkliche kleine Widerstandsinseln gegen die Globalisierung. Vielleicht gehören sogar die islamistischen Bewegungen dazu: Man kann die Fundamentalisten archaisch und barbarisch nennen, aber wenn man die aktuellen Strategien betrachtet, stehen sie außerhalb, sie sind damit also auch kein direkter Gegner der Globalisierung. Wenn die Singularität nicht greifbar ist, dann heißt das aber keineswegs, dass man sie nicht vernichten könnte. In Europa hat man sich sehr viel Mühe gegeben, alle Singularitäten zu zerstören, seien es nun die Dialekte oder die lokalen Märkte, Kulturen, Sitten. Das alles ist ein langer Prozess der fortwährenden Reduzierung, Liquidierung usw.
Stellt zum Beispiel der Bauer José Bové, der im letzten Jahr in der Bretagne eine McDonalds-Filiale angezündet hat, für Sie eine Singularität dar?
Er selbst sieht sich vielleicht als Singularität, aber für mich ist er es nicht. Ich sehe ihn eher als Banalität in einer totalitären Spirale. Er arbeitet daran, das System zu perfektionieren, er bringt genau die homöopathische Dosis an Negativität, die das System funktionieren lässt. Singularität hat ja nichts mit politischer Sympathie zu tun. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass jemand wie Jean-Marie Le Pen, der absolut abscheulich ist, trotzdem singulärer als der natürlich viel sympathischere Bové ist.
Was hat Sie bewogen, nach „Der symbolische Tausch und der Tod“ ein Buch namens „Der unmögliche Tausch“ zu schreiben? Was ist in den 25 Jahren dazwischen passiert?
Es gibt keine wirkliche Wechselwirkung zwischen den beiden Büchern. Aber im Nachhinein ist mir dann schon aufgefallen, dass es zumindest eine Art Bogen gibt. „Der symbolische Tausch und der Tod“ hatte mehr mit einer Anthropologie zu tun, es war ein letztlich kulturkritisches Buch. „Der unmögliche Tausch“ ist metaphysischer. Das ältere Buch konnte sich noch als eine Art Lösung oder Antwort verstehen, man konnte noch von einer Revolution des Symbolischen sprechen. Das neue steckt viel tiefer im Chaos der Dinge und befindet sich in einer Art ungeklärtem Zwischenzustand. Die Welt stellt sich heute radikaler dar, deshalb ist es ein radikaleres Buch mit radikaleren Thesen. Die aber auch in einer größeren Uneindeutigkeit enden. Es ist ein gröberes, weniger fertiges Buch. Aber dafür ist es auch dramatischer und poetischer.
In „Der unmögliche Tausch“ beschreiben Sie die heutige Welt als spekulativ, aleatorisch, fragmentiert. Ihre These eines unmöglichen Tausches beruht darauf, dass althergebrachte Konzepte wie Tausch und Wert bzw. Dichotomien wie Transzendenz und Immanenz nicht mehr als Regeln funktionieren. Aber könnte es nicht sein, dass die virtuelle bzw. medialisierte Welt nach völlig anderen, noch zu entdeckenden Regeln funktioniert?
Natürlich hat selbst eine so moderne Theorie wie die Chaostheorie ihre Regeln. Es gibt immer eine Wahrscheinlichkeit, die bestimmte Funktionsmodi kontrolliert. Was die Aleatorik der Welt betrifft, sehe ich da allerdings einen Unterschied. Es gibt da eine Unsicherheit, die keine wissenschaftliche oder physikalische, sondern eine radikale ist. Ich halte es für absolut undenkbar, dass man dafür irgendwann eine Lösung findet. Denn die Welt ist nicht geschaffen worden, damit man sie versteht. Sie schert sich nicht um Erkenntnis. Vielleicht ist sie sogar geschaffen worden, um nicht verstanden zu werden. Die Erkenntnis ist zwar Teil der Welt, aber nur als totale Illusion. Genau das finde ich interessant, denn es bedeutet, dass das Denken nur Teil eines Ganzen ist, und dass es für dieses Ganze keine Interpretation gibt. Zwar gibt es im Innern dieser Welt durchaus ein Erkenntnis- und Denksystem, das so etwas wie Wahrheits- und Wirklichkeitseffekte produziert. Aber ich finde es wichtig, dass die Philosophie diese radikale Unsicherheit und Illusion immer im Hinterkopf hat. Man muss sich vor der Wahrheit hüten (lacht).
In Ihrem Buch verwenden Sie klar definierte Begriffe aus der Soziologie, der Philosophie, der Politik, den Humanwissenschaften. Andererseits propagieren Sie eine Sprache der Verführung und spielerische Techniken. Ist das nicht ein Widerspruch?
Durchaus. Aber es ist der Widerspruch eines Diskurses, der etwas erklärt, präsentiert, einen Inhalt vermitteln will. Die Sprache ist etwas anderes. Sie ist ein dualer Akt, eine Herausforderung, sie braucht den anderen als Gegner und Spielpartner. Dann ist sie nicht Kommunikationsmittel, sondern eine Form der Verführung. Als solche kann sie den anderen von seiner Position abbringen und den Sprechenden selbst ins Spiel bringen.
Bei einer Podiumsdiskussion, die kürzlich in der Berliner Schaubühne stattfand, forderte man von ihren Theorien immer wieder eine Utopie, einen Trost, eine Art Gebrauchsanweisung für das Leben. Betrifft das Sie im Besonderen oder sehen Sie das als ein allgemeines Problem der modernen Philosophie?
Stimmt, diese Forderung kommt immer wieder. Aber ich fühle mich dafür nicht verantwortlich. Ich sehe das als Bestandteil der allgemeinen Ideologie und lehne jede Verantwortung ab. Meine Position ist die: Macht damit, was ihr wollt, es gibt keine Gebrauchsanweisung. Es gibt durchaus Philosophen, die es als ihre Aufgabe betrachten, ihre Konzepte und Terminologien auf das Niveau von Ratschlägen zu bringen. Das macht sie dann zu ideologischen oder politischen Ratgebern. Ich habe keine Lust auf dieses Spiel. Es ist vielleicht enttäuschend für das Publikum, dass es auf sich selbst und seine eigene Verantwortung zurückgeworfen wird. Aber es muss da eine Art Arbeitsteilung geben. Ich habe meine Arbeit gemacht. Ich kann nicht gleichzeitig die Butter und das Geld für die Butter geben (lacht).
INTERVIEW: HARALD FRICKE KATJA NICODEMUS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen