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Ohne Leitbild

„Wer rettet uns vor der Leitkultur?“ Eine Podiumsdiskussion im Museum für Naturkunde in Berlin

Erstaunliche 150 Menschen hatten sich am Schwanzende des Ungeheuers, des 23 Meter langen und 12 Meter hohen Brachiosaurus drancai (so benannt wegen seiner übermäßig langen Arme) niedergelassen, um Dienstagabend an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Wer rettet uns vor der Leitkultur? Die taz! Oder?“ im Berliner Museum für Naturkunde teilzunehmen. Keine Sorge, das Saurier-Ungetüm, Liebling der Berliner Kids jedweder Abstammung und insofern ein Leittier des Multikulturalismus, war zu Lebzeiten strikter Vegetarier und damit ideologisch unbedenklich. Nach Austausch einiger unvermeidlicher Anzüglichkeiten – wer ist hier das Fossil, Herr Merz von der CDU, die taz oder beide – ging es zwischen den Diskussionsteilnehmern, Cem Özdemir von den Grünen, Giovanni di Lorenzo vom Tagesspiegel, Bascha Mika und Jens König von der Kampfgruppe für den Fortbestand der taz, Lea Rosh von der Kampfgruppe zur Errichtung des Holocaust-Denkmals und schließlich Patricia Schäfer vom ZDF-Morgenmagazin als Moderatorin zur Sache.

Was ist der Stellenwert der Diskussion über „Leitkultur“? Di Lorenzo hält die ganze Debatte für eine Binnenveranstaltung der politischen Klasse. Was im Vor- und anschließend im Rückwärtsgang von der CDU geäußert wurde, erschrickt ihn nicht bis ins Mark. Sachlich geht es um die bekannten Probleme, teils auch um Selbstverständlichkeiten, wie Sprachkenntnisse und demokratische Haltungen seitens der Ausländer. Auch König riet zu Gelassenheit. Anders Özdemir, Mika und Rosh. Sie betonten die Linie, die von der chistlich-abendländischen Ideologie über die Verteidigung des jus sanguinis bei der Staatsbürgerschaft zur „Leitkultur“ führt, eine Kette von Ab- und Ausgrenzungen, gerichtet vor allem gegen die Türken in Deutschland und gegen den Islam. Lea Rosh rief Paul Spiegel zum Kronzeugen auf: Die grundgesetzlich garantierte Würde betrifft den Menschen und nicht nur den christlichen Mitteleuropäer.

Bedarf es eines Gegenentwurfs zur CDU-Leitkultur? Das Podium war der Meinung, man sollte die CDU in ihrem eigenen Leitgebräu schmoren lassen. Mika kontrastierte Leitkultur mit Mehrheitskultur. Letztere aber sei gerade nicht homogen, sondern aufgesplittert in einer Vielzahl von Lebensentwürfen und Weltbildern – wie übrigens die Kultur der Immigranten auch. Entscheidend sei, Differenzen anzuerkennen und auszuhalten. Aus dem Publikum wurde der Begriff der Alltagskultur beigesteuert. Die, so di Lorenzo, sei allerdings zunehmend nicht mehr durch Nation oder Religion bestimmt, sondern von universell wirksamen Zeichen, zum Beispiel des Konsums. König erklärte kurz und bündig, er komme gut ohne Bekenntnisse aus, die seien zu DDR-Zeiten hinreichend abverlangt worden. Auch auf den Verfassungspatriotismus, den Özdemir als Bekenntnis-Substrat vorschlug, oder auf das Werte-Minimum, für di Lorenzo der kleinste gemeinsamen Nenner, könne er bequem verzichten. Also nicht Streit um Begriffe, sondern Problemlösungen.

Welche Integrationsleistungen hat jede Seite zu vollbringen? Rosh und Özdemir malten das Bild des handlichen Ausländers, der den Deutschen keine Probleme macht. Jetzt sind die ausländischen „Gründer“ plötzlich im Gespräch. Die Immigranten als wagemutige Unternehmer, noch ein Klischee. Mika konstatierte eine zunehmende Kluft zwischen der Eingemeindung ausländischer, vor allem intellektueller Eliten und der weiterlaufenden, sich sogar verschärfenden Abgrenzung von den „einfachen“ Ausländern. Ohne dies zu bestreiten, wies di Lorenzo darauf hin, dass die Immigranten es an dem früher zentralen Impetus fehlen ließen, „mein Sohn soll es besser haben als ich selbst“.

Und die taz? Und die Medien? Eingefordert wurde von der taz eine kräftige Brise an Nonkonformismus, auch bei der Benennung der Grenzen und Probleme der Integration, eine Kritik, die von Bascha Mika anhand zahlreicher taz-Artikel zurückgewiesen wurde – aber der Stachel saß trotzdem. Relativ milde fiel die Auseinandersetzung über die konkrete Einwanderungspolitik und die Rolle der Bündnisgrünen in ihr aus. Melancholisch stellte di Lorenzo fest, man könne eben das deutsche Volk nicht auswechseln. In der Publizistik wie in der Politik ginge es um die Pflicht zur Vermittlung. Zum Schluss ein Gespräch über den Ruf des Muezzins und die Kirchenglocken. Entweder beides oder keines. Hierzu das Bekenntnis Bascha Mikas: „Ich stehe der Kirche fern, aber ich liebe Kirchenglocken.“ CHRISTIAN SEMLER

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